Die große Bedeutung von Selbsteinschätzung – und warum es den Dunning-Kruger-Effekt nicht gibt

Der Dunning-Kruger-Effekt wird in Netz-Diskussionen oft bemüht: Der Zusammenhang »je ignoranter, desto selbstsicherer« scheint zu erklären, weshalb Menschen, die von Dingen wenig verstehen, oft nicht davor zurückschrecken, ihr Halb- oder Falschwissen forsch zu präsentieren und davon ausgehend Entscheidungen zu fällen. Inkompetente Menschen, so das verbreitete Verständnis des Effekts, halten sich für kompetenter, als sie es sind.

Doch den Effekt gibt es in einer generalisierten Version nicht, wie ein genauerer Blick zeigt, der sich gerade auch aus pädagogischer Perspektive lohnt. Es gibt verschiedene Formen des Effekts, die aber – so zeigt das etwa diese Untersuchung – unter anderem von Kompetenzbereichen und sozialen Faktoren abhängen. Bestimmte Faktoren führen dazu, dass Menschen sich tendenziell überschätzen. Andere können sie dazu verleiten, ihre Kompetenz zu tief einzuschätzen.

Der Effekt, wie er etwa in dieser Abbildung dargestellt wird, existiert so aber nicht – die Verallgemeinerung ist falsch und kann empirisch nicht nachgewiesen werden.

Datei:Dunning-Kruger-Effect.png

Dunning und Kruger haben statistisch unbeholfen gearbeitet. Präziser ist dieses aktuelle Paper. Es zeigt: Knapp 80% der Menschen sind nicht extrem schlecht darin, sich selbst einzuschätzen. Der Rest zerfällt in zwei Hälften: Solche, die sich unterschätzen – und solche, die sich überschätzen. Jeweils rund 5% der Bevölkerung gehören zu einer der beiden Gruppen. 

Fachleute (gemessen am Bildungsgrad) zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sie sich etwas besser einschätzen können als der Rest der Bevölkerung.
Die Präzisierung des Dunning-Krugers-Effekt lautet in dieser Studie (S. 29) wie folgt: Für mich wichtigstes Fazit des Papers:

Self-assessment appears to be a teachable metacognitive skill that is meaningful and measurable. It may be one of the most beneficial skills of all for students to develop. (S. 25)

Daraus leitet sich ab: In der Schule muss Selbsteinschätzung geübt werden – in jedem Lernschritt. Eigene Leistungen kritisch wahrzunehmen, ist für das Lernen von Erwachsenen eine entscheidende Voraussetzung. Die Fähigkeit erlaubt, Lernen als Strategie fokussiert einzusetzen. 

Was sind Voraussetzungen, damit Selbsteinschätzungen erfolgreich vorgenommen werden können? Ein aktuelles Paper zeigt dazu Perspektiven aus der Forschung:

  1. Die Lernenden müssen dabei unterstützt werden, Kriterien zu entwickeln, anhand derer sie ihre Lernprodukte einschätzen können.
  2. Sie müssen regelmäßig aufgefordert werden, diese Kriterien auch anzuwenden.
  3. Selbsteinschätzungen sind nicht Selbstbewertungen – es geht nicht darum, sich selbst eine Note zu geben, sondern in ein reflexives Verhältnis zur eigenen Tätigkeit zu treten, zu erkennen, was man wie gut kann. Auch Lehrende sollen Selbsteinschätzungen nicht als Grundlage für die Vergabe von Noten einsetzen.
  4. Für Selbstevaluationen müssen genügend Zeit und Unterstützung bereit stehen, genau so für Überarbeitungen von Lernprodukten.
  5. Es muss möglich sein, diese Evaluationen privat vorzunehmen, damit nicht drinsteht, was Lehrende hören wollen, sondern was Lernende wirklich denken.

Das Problem beim Dunning-Kruger-Effekt in der aktuellen Netzdebatte ist, dass von einem statischen und weit verbreiteten Phänomen ausgegangen wird. Dabei handelt es sich aber mehr um eine Lernschwäche, die in bestimmten Kontexten auftritt: Menschen, die sich schlecht einschätzen können, haben das nicht gelernt. Ein Grund dafür ist auch, dass soziale Erwartungen den Effekt beeinflussen: Menschen überschätzen sich besonders dann, wenn es sich um Kompetenzen handelt, die eine hohe soziale Bedeutung haben.

Edit: Ich habe diesen Beitrag im April 2022 ergänzt und überarbeitet. 

8 Kommentare

  1. Anonymous sagt:

    Im Text steckt eindeutig viel Fachwissen drin und als solches schätze ich Sie sehr. Aber der Dunning-Krueger Effekt wird soweit ich das sehen kann ausschließlich ironisch oder spöttisch-herablassend verwendet. In Bezug auf Personen eher beschränkten Wissens, die aber gerne laut mitreden. Das schmerzt den Fachmann sicher sehr, aber die berühmte Grafik wird bewußt genommen, um andere zu diffamieren und in einem gewissen Sinne damit die Möglichkeit zu geben, über andere zu lachen.

  2. Anonymous sagt:

    Ich habe den Artikel nur bis zur Grafik angesehen, die NICHT der Grafik von Dunning und Kruger entspricht.

    Daher würde ich dem Autor leider auch den Dunning -Kruger-Effekt unterstellen oder zumindest eine schlechte Recherche!

    Sorry …

  3. sinister sagt:

    Ich bin gar nicht davon ausgegangen, dass jeder/viele die keine Ahnung von etwas haben, automatisch selbstsicher damit auftreten. Stand das so direkt in dem Paper?

    Der Dunning-Kruger-Effekt war für mich nur dann vorhanden, wenn sich eben jemand derartig verhalten hat.

  4. Logiker sagt:

    Das Problem beim Dunning-Kruger-Effekt in der aktuellen Netzdebatte ist, dass er natürlich nichtalle, sondern nur einen Teil erfasst. Wenn jemand schwafelt, dass von einem statischen und weit verbreiteten Phänomen ausgegangen wird, hat er das Problem nicht ferstanden. Dabei handelt es sich um eine Lernschwäche des Menschen, des so schwafelt, wie der Autor hier. Er ist ein Menschen, der sich schlecht einschätzen kann, und hat nichts gelernt.

  5. in unserer Schule gibt es ab Klasse 3 monatlich Bögen zur Selbsteinschätzung, am Anfang eng angeleitet und mit smilies zu den einzelnen items, später differenzierter. Es folgt ein Entwicklungsstandgespräch mit dem Lehrer, der seine Sicht der Dinge dazu gibt, dabei auch konkret auf vorhandene Stärken und erworbene Fähigkeiten hinweist und ermuntert. Man darf sich das also nicht als Wühlen in Mängeln und Schwächen vorstellen – wenn das thematisiert wird, werden konkrete Handlungshinweise gegeben, wie man das ein oder andere im nächsten Monat noch verbessern könnte.
    In Klasse 8 schätzen sich praktisch alle so realistisch ein, dass eine Korrektur der Selbsteinschätzung in der Entwicklungsstandbesprechung fast unnötig wird und der Schwerpunkt darauf liegen kann, auf welche Ziele sich der Schüler im nächsten Monat fokussieren will.
    Will sagen: Ich bestätige hiermit die Trainierbarkeit aus eigener Erfahrung.

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