Mathematik abschaffen – ein Beitrag zur Fächerdiskussion

Immer wieder wird die Forderung laut, ein neues Schulfach sei die beste Lösung, um einem gesellschaftlichen Problem oder einer Herausforderung zu begegnen. So schön es ist, dass der Schule mit dieser Forderung Vertrauen entgegengebracht wird – und so sinnvoll es oft ist, Bildung als zentralen Zugang zu einer sozialen Frage zu betrachten: Didaktisch zielt die Forderung in die falsche Richtung. Eine zeitgemäße Schule braucht weniger Fächer, nicht mehr. Echte Probleme, so genannte »wicked problems«, erfordern Denken, das Fächergrenzen verlässt und Methoden kombiniert. Das verschiedene Perspektiven einbezieht, und nicht etablierten Strukturen folgt.

https://twitter.com/philipp_kaestli/status/983033942734458880

Aufgrund dieser Einsicht hat mich die Frage gefreut, welches Fach ich denn abschaffen würde, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte.

Meine Antwort: Mathematik.

Jetzt muss ich vorausschicken: Das ist eine Provokation, eine Zuspitzung. Aber eine, die ich begründen kann. (Hilfreich ist vielleicht auch, wenn ich anmerke, dass ich das Lehramt in Mathematik erworben habe und sechs Jahre lang Mathematik unterrichtet habe.)

Mathematik ist eine Geisteswissenschaft. Sie ist die Lehre davon, abstrakt und in Modellen zu denken. Sie lebt von Verallgemeinerungen, Logik, Beweisen und Begriffen. Wer Mathematik betreibt, rechnet nicht, sondern denkt nach.

Fachdidaktisch hat diese Einsicht zu vielen Modellen geführt: Dialogisches und problemorientiertes Lernen sind zwei Ausrichtungen, in denen es darum geht, dass Lernende ihre Denkbewegungen darstellen, eigene Verfahren entwickeln und Werkzeuge dann kennen lernen, wenn sie ihnen helfen, ein Problem zu verstehen.

Zwei klassische Beispiele:

  1. Du hast ein Rad mit Zahnkränzen bei der Pedale und beim Hinterrad. In welcher Reihenfolge musst du die Gänge einlegen, die sich durch eine Kombination eines Pedal- und Hinterradzahnkranzes ergeben?
  2. Fünf Piratinnen haben 100 Goldstücke erobert und müssen diese aufteilen. Sie folgen einem System: Die älteste macht einen Vorschlag, wie das Gold aufgeteilt werden kann. Wenn die Hälfte (oder mehr) mit dem Vorschlag einverstanden sind, wird die Aufteilung vorgenommen. Andernfalls wird die älteste Piratin über Bord geworfen und die zweitälteste macht einen nächsten.
    Piratinnen handeln erstens komplett egoistisch, mögen es zweitens im Zweifelsfall, wenn jemand über Bord gehen muss und drittens trauen sie einander überhaupt nicht, so dass sie keine Absprachen vornehmen. Viertens sind sie absolute Logik-Genies.
    Wie teilen die fünf Piratinnen Anna, Bettina, Claudia, Dorotea und Elvira die Goldstücke auf?

Leider ist die Unterrichtsrealität eine andere. Sie bereitet auf die unten abgebildeten Aufgaben der Maturprüfung vor. Im Mathematikunterricht wird Theorie instruktiv vorgegeben, sie wird dann anhand von Rechnungsaufgaben vorgeführt. Es gibt zwar immer wieder Lehrerinnen und Lehrer, die andere didaktische Ansätze erproben – letztlich setzt jedoch die Prüfungs- und Fachschaftskultur einen traditionellen Ansatz immer durch.

Lehrpersonen im Fach Mathematik sehen sich oft in einer Dienstleistungsfunktion: Sie befähigen Schülerinnen und Schüler, Prüfungen zu bestehen, ihr Wissen in anderen Fächern anzuwenden oder eine weitere Ausbildung durchzustehen. Zudem sehen sie die Kompetenz, an einem traditionellen Mathematikunterricht teilzunehmen, oft als diagnostisch für die schulische Leistungsfähigkeit an: Eine gute Schülerin ist auch gut in Mathematik (im Sinne des Unterrichts).

Oft wird ausgeblendet, dass sich die Funktion der Mathematik in der Berufswelt und in der Schule durch die Digitalisierung komplett verändert hat: Einfache Rechner können heute auch schwierige Integrale berechnen. Auch Ingenieurinnen und Ingenieure rechnen heute kaum noch; genau so ist es in Berufen, die mit Statistik zu tun haben. Entscheidend ist, abschätzen zu können, an welcher Stelle welche Berechnungsverfahren eingesetzt werden sollen.

Für diese Entscheidung helfen die Fächer, in denen mathematische Grundfertigkeiten angewendet werden, mehr als der Mathematikunterricht. Auch das zeigt sich an den unten stehenden Prüfungen: Sie rufen einfache Rezepte ab, welche die Schülerinnen und Schüler entweder auswendig gelernt haben oder nicht. Mathematisches Denken erfordern sie nicht.

Kurz: Mathematik ist in der Schulpraxis stark von fachdidaktischen und lebensweltlichen Bezügen entfernt, beansprucht aber enorm viele Ressourcen im Schulalltag. Deshalb würde ich dieses Fach zuerst abschaffen, wenn ich in einer utopischen Welt dazu gezwungen wäre, eine solche Entscheidung zu treffen.

Besser wäre es natürlich, das Fach zeitgemäß zu gestalten. Aber hier habe ich schon etwas resigniert.

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Maturaaufgabe (und Lösung unten) KS Reussbühl, 2017

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8 Kommentare

  1. Lenpatri sagt:

    Dem würde ich hinzufügen, dass eine Abschaffung des Fachs Mathematik leicht durch interdisziplinär angewandte Mathematik ersetzt werden könnte.
    Statistik in der Psychologie, Analysis in der Physik, Gruppen in der Chemie. Es gibt also viel ungenutzten Raum für Kompetenzerleben!
    Generell fände ich mehr Interdisziplinarität super und bei Mathematik wäre das besonders billig herzustellen.

  2. Abschaffen wäre natürlich auch eine Option. Ich bin aus einer anderen Richtung kommend (Es gibt keine neue Mathematik in der Schule) auch zu der Feststellung gekommen, dass in der Schule theorieloses Gerechne passiert.

  3. Theo Byland sagt:

    Ich habe 1966 in der Schweiz C-Matur gemacht, also eine mathematisch-naturwissenschaftlich orientierte. Was ich in M „konnte“, war alles auswendig gelernt – die Abiturnoten waren dann trotzdem allesamt die bestmöglichen. Da mich Physik immer schon fasziniert hatte, wagte ich – mit der diplomierten Illusion ausgestattet, ich würde M ja toll können – den Schritt an die ETH, Abt. IX (M und Ph) [dem Vernehmen nach die allerschwierigste]. Semster 1: 36 Stunden M (Analysis, Lineare Algebra, …), nix anderes (logisch für die Sache Ph, die aber zu meinem Leidwesen erst im 2. Semester beginnen würde). Schon in den ersten Übungen stiess ich an meine Grenzen, liess mir dann von einem Freund helfen, verstand jedoch nie und mogelte mich durch. In der Mittte von Semster 2 gab ich auf. Trotz gymnasialen Bestnoten beim damals als bestem gehandelten Lehrer. Trotz einer Art verzweifelter Liebe für das Fach.
    Fazit: M würde ich nicht abschaffen, aber „zeitgemäss gestalten“, wie du schreibst, Philippe. Denn immerhin ist sie die Sprache, die gelernt werden muss, um die Abenteuer der Physik, vielleicht auch der Chemie zu bestehen. Ja: Gerne wäre ich Physiker geworden –
    (Interessant, übrigens, dass du der Germanistik den Vorzug geben hast und ich mich nach meinem Scheitern für die Romanistik entschieden habe – was hat dich bewogen, den Weg des M-Lehrers nicht weiter zu gehen?)

    1. Mein Grund war/ist, dass ich im Deutschunterricht mehr Freiheiten habe und mehr Begeisterung. Hat sich aber auch irgendwie so ergeben – im Studium fand ich Mathematik auch immer sehr schwierig, besonders die Übungen.

  4. Viele Deiner Beobachtungen halte ich für völlig richtig, aber mich wundern Deine Schlußfolgerungen. Letztlich sagst Du: Was in der Schule stattfindet, ist in aller Regel eben nicht Mathematik, sondern bestenfalls Rechnen – und Rechnen kann jeder simple Taschenrechner besser als Menschen. Also kann man Mathematik als Schulfach auch abschaffen.

    Ich hätte eigentlich erwartet, daß Du sowas sagst wie: Was an der Schule stattfindet, ist bloßes Rechnen – und das kann man eigentlich (zumindest als eigenes Fach) auch abschaffen, weil es tendentiell Zeitverschwendung ist. Oder man sollte dafür sorgen, daß an der Schule tatsächlich Mathematik gemacht wird.

    Letzteres befürwortest Du doch eigentlich, wenn Du sagst, „Wer Mathematik betreibt, rechnet nicht, sondern denkt nach“, und: „Entscheidend ist, abschätzen zu können, an welcher Stelle welche Berechnungsverfahren eingesetzt werden sollen.“

    Anders gesagt: Ich hätte vermutet, daß Du Lockharts „A Mathematician’s Lament“ (https://www.maa.org/external_archive/devlin/LockhartsLament.pdf) zustimmst, der u.a. sagt: „I’m complaining about the lack of mathematics in our mathematics classes.“

    1. Ja, so läuft meine Argumentation. Aber wie ich das auch schon für den Deutschunterricht gesagt habe: Vielleicht nützt wirklich nur der Gedanke daran, das Fach in der heutigen Form abzuschaffen.

  5. Walter Reinstorff sagt:

    Danke für den Artikel.

    Die schweizer Maturaaufgaben unterscheiden sich zwar _deutlich_ von den deutschen Abituraufgaben, allerdings sind sie inhaltlich nahezu identisch bzw. deutlich anspruchsloser (-> Kompetenzorientierung). Leider.

    Didaktisch bedarf der Mathematikunterricht in der Tat einer Generalüberholung. Allerdings ist Mathematik das einzige Fach, dass den SuS viele Wege offeriert, die alle zu einem Ziel führen. Damit ist Beliebigkeit und Willkür (wie in anderen Fächern, z.B. Deutsch) nahezu ausgeschlossen (hängt natürlich immer vom Lehrer ab). Das Handwerkszeug muss allerdings gelernt/geübt werden (wie in einer Fremdsprache Vokabeln und Grammatik). Das ist heute immer problematischer, weil jeder nur noch schnelle Erfolge möchte. _Darum_ ist Mathematik auch so unbeliebt, nicht etwa weil es so wenig anwendungsorientiert ist.

    Im Prinzip kann jeder mathematisch Denken lernen (bis zu einem bestimmten Niveau). Es ist halt einfach eine Frage der Anstrengungsbereitschaft, des Durchhaltevermögens und der Frustrationstoleranz. All das verschwindet aber zunehmend aus der Schule.

    WR

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