Ende September war ich in München auf einer Tagung zu diesem Thema. Wie immer im Umgang mit digitaler Kultur interessiert mich bei der Frage, wie Menschen in Zukunft lesen werden, zunächst einmal eine Beschreibung von Praktiken, weiter dann eine Erklärung, warum Menschen sich verhalten, wie sie sich verhalten. Beobachtung und Analyse ziehe ich der anekdotischen Evidenz der Selbstbeobachtung und dem vorschnellen Urteilen über die Bedeutung veränderter Verhaltensweisen vor.
Was ich damit meine, führt ein Interview mit Philipp Keel, dem Diogenes-Verleger, exemplarisch vor.
Wir sehen aber eine Generation heranwachsen, die, ohne es moralisch zu werten, von den Eltern eher mit einem Smartphone ausgerüstet wird, als dass gemeinsam ein Billy-Wilder-Film oder eine Ausstellung von Manet angeschaut würde.
Würde das tatsächlich ohne moralische Wertung gesehen, sähe Keel wohl auch, dass das Smartphone durchaus auch Wilder-Filme oder Manet-Bilder darstellt. Er sähe es als Kulturzugangsgerät – was es für Jugendliche ist.
Stattdessen überhöht er aber den eigenen, bildungsbürgerlichen Medieneinsatz:
[D]as Internet, das für uns so unentbehrlich geworden ist, gibt uns alles, nimmt uns aber viel Zeit und Kraft und beeinträchtigt spürbar unsere Phantasie. Ich glaube, wir sind regelrecht stumpf geworden, lassen uns von einem kleinen blöden Gerät leiten, das uns den Verstand raubt. […] Dabei sind wir, so meinen wir, gleichzeitig gezwungen, permanent auf alles, was um uns herum geschieht, zu reagieren. Das sind die Anforderungen heutiger Kommunikation. Das ist es, was uns so müde macht. Dabei vergessen wir, über das, was uns beschäftigt, eine Nacht zu schlafen, reaktionsfreie Momente im Leben fehlen. Hier hat das Buch seinen Platz, als Sinnbild der Entschleunigung. In einer Welt, in der man von uns vor allem erwartet, praktisch zu sein und zu funktionieren, ist das schwer.
Zu denken, eine Welt ohne Netz sei langsamer, weniger stark auf Erwartungen anderer bezogen, mehr dem Sein als dem Haben zugeordnet, um die Terminologie von Fromm zu verwenden – das ist im besten Fall sentimental, im schlechtesten Fall intellektuell unredlich. Menschen waren schon immer müde und unzufrieden, reagierten mehr als dass sie agierten, war außer sich statt in sich.
Der Wunsch, einfach mal ungestört einen 500-seitigen Roman zu lesen, begleitet mich seit ich lese. (So viel anekdotische Evidenz gestatte ich mir.) In gewissen Phasen gelingt es mir gut – in den Sommerferien habe ich auf meinem Kindle »Swing Time« gelesen und erst danach in einer Buchhandlung bemerkt, wie dick der Roman ist. In anderen bleibt vieles ungelesen. Das alles hat aber mit dem Lesen der Zukunft wenig zu tun.
Die Frage ist, ob wir ein bestimmtes, sehr enges Modell des Lesens (in Ruhe kanonisierte Belletristik lesen) bevorzugen und viele Anstrengungen unternehmen, um diese Leseform zu fördern, die immer schon nur für eine Elite möglich und wichtig war. Oder ob wir den Blick auf diverse Lesepraktiken öffnen und bemerken, dass auch Computerspiele und Comics gelesen werden, dass das Netz unsere Phantasie nicht betäubt, sondern in vielen Phasen anregt.
Wenn wir bereit sind, offen hinzusehen und nach Erklärungen zu suchen, brauchen wir bessere Botschafterinnen. Keel verteidigt – völlig zurecht – einen Markt, in dem er für die Löhne von Angestellten und Autorinnen und Autoren verantwortlich ist. Dafür ist es wichtig, dass viele Bücher verkauft werden. Werden sie mit einem selbstbestimmten, zufriedenen Leben assoziiert, ist das gutes Marketing. Mehr aber nicht.

Ein toller Artikel und absolut auf den Punkt. Ich hatte die Aussagen Keels ebenfalls verfolgt und erhöre mich immer, wenn derartiges unwidersprochen bleibt. Insofern Danke für die Gegendarstellung.