Update, 21.2.2017:
- Das Buch ist mittlerweile – wie von der gewählten CC-Lizenz vorgesehen – im Netz abrufbar.
- Zur Reaktion der beiden Herausgeber Larbig und Spang auf diesen Blogpost (und auch auf den von Elke Höfler) habe ich mich hier geäußert.
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Der #edchatde ist ein ein Twitter-Chat zu Erziehungsthemen. Die beiden deutschen Lehrer Torsten Larbig und André Spang haben ihn ins Leben gerufen und mit viel Engagement gepflegt und zu einer Community aufgebaut, in der sich Lehrerinnen und Lehrer einmal wöchentlich (am Dienstag von 20-21 Uhr) zu Themen austauschen, die aus der Community selbst stammen. Es herrscht eine konstruktive, freundliche Stimmung – mit der es Neulingen leicht gemacht wird, Twitter als Lerninstrument zu erfahren. Die Diskussionen zu den #edchatde-Themen sind vielfältig und intensiv. Sie sind in einem Archiv dokumentiert – dahinter steckt große Arbeit.
Ich selber empafhl den #edchatde sehr gerne an Weiterbildungsveranstaltungen, um Lehrerinnen und Lehrern Mut zu machen, sich digital zu vernetzen. Teilgenommen habe ich phasenweise intensiv und besonders kontroverse Diskussionen geschätzt, in letzter Zeit schaute ich aber nur noch rein und kommentiere zwei oder drei Aspekte, die mir interessant scheinen. Vieles wiederholt sich aus meiner Sicht, zudem ist das vorgegebene Tempo recht hoch, so dass vertiefende Diskussionen nur peripher möglich sind.
Pünktlich zur Didacta 2017 in Stuttgart ist nun bei Cornelsen ein Buch zum #edchatde erschienen. Sein Titel: »Digitale Medien für Unterricht, Lehrerjob und Schule«. Die Herausgeber Larbig und Spang haben mit einem kleinen Team von am Chat Beteiligten die Diskussionen kuratiert – also geordnet, eingeleitet, zusammengefasst, zitiert und mit weiterführenden Links versehen. Das Inhaltsverzeichnis zeigt gut, welche Themen in aktuellen Bildungsdiskussionen aus Lehrendenperspektive rund um das Thema Digitalisierung unter den Nägeln brennen:
- Rahmenbedingungen von Schule
- Sich selbst professionalisieren und weiterbilden
- Rund um Unterricht und Unterrichtsvorbereitung
- Konkrete Unterrichtsideen
- Pädagogische Fragen und die eigene Rolle reflektieren
- Bildung, Schule und Unterricht der Zukunft
Diese Oberthemen bündeln jeweils mehrere anregende Fragen, zu denen ein Chat abgehalten worden ist. Dieser Austausch bildet dann die Grundlage für die entsprechenden Kapitel (einen Einblick erhält man für die Kapitel von Ines Bieler hier und die von Monika Heusinger hier).
Diese Kapitel sind jedoch mit Mängeln behaftet. Im Vorwort von Sylvia Löhrmann heißt es über die Funktion des Buches:
Lehrerinnen und Lehrer können hier nun auch ganz analog nachlesen, wie anregend der Austausch über Twitter sein kann.
Auf die Demonstration dieser Anregung beschränken sich die Kapitel weitgehend. Als Beispiel kann ein Larbig-Kapitel zu »guten (neuartigen) Aufgaben für den Unterricht« herangezogen werden. Da heiß es in der Einleitung, »Fragen der Aufgabenstellungen [seien] u. a. in der Schreibdidaktik in den Fokus der Wissenschaft geraten«. Erkenntnisse oder Einsichten aus diesen Forschungsbemühungen fehlen jedoch im Kapitel. An ihre Stelle treten weitgehend Meinungen der Teilgebenden. Fazit: »Es kommt also auf Kontexte an. […] Es geht um die Befähigung der Lernenden, etwas zu lernen und dies effizient zu tun.« Das sind dann letztlich recht triviale Aussagen. Das mag verständlich sein, zumal die Diskussionen schnell »ausdifferenzieren«, wie es bei Larbig heißt. Aber interessierte Lehrpersonen werden kaum davon profitieren, wenn sie lesen können, dass einige Wiederholungen beim Lernen sinnvoll, andere Redundanz lähmend finden, dass gute Aufgaben die »totale Überforderungen« und die »totale Unterforderung« verhindern sollten oder Transfer wichtig ist und mit Blogs ermöglicht werden kann.
Im Kapitel wird durchaus die Breite der Diskussion erkennbar und auch die Fülle von Meinungen, Erfahrung und Expertise – aber die zurückhaltende Kuratierung der Autorinnen und Autoren verhindert das Vermitteln bündiger Erkenntnisse. Die Beispiele und weiterführenden Texte sind nur über die zahlreichen Links zugänglich, die im eBook sauber hinterlegt sind. In wenigen Fällen funktionieren sie aber schon nicht mehr, in den simuliert eingebetteten Tweets sind sie nicht klickbar und in der Printausgabe sind die langen Links etwa auf Google-Docs-Dokumente wertlos.
Problematischer erscheint jedoch, dass die Inputs von Teilgebenden dekontextualisiert und anonymisiert worden sind. Auch wie oben abgebildete Tweets sind nicht mehr in allen ihren Referenzen rekonstruierbar, weil sie nicht als Tweet verlinkt sind. Viele Aussagen aus Tweets wurden in Listen von Bulletpoints übertragen, ohne dass die Autorin oder der Autor rekonstruierbar wäre. An die Stelle sauberer Quellennachweise wurde ein »Teilgeberverzeichnis« mit generischem Maskulinum gesetzt – also eine Liste von Twitter-Userinnen und -Usern, deren konkrete Beiträge nicht mehr als solche erkennbar sind.
»Es kommt also auf Kontexte an«, heißt es im oben erwähnten Kapitel, das Torsten Larbig verfasst hat. Das fehlende Bewusstsein für Kontexte ist es denn letztlich auch, was dem bemerkenswerten Projekt, aus einem Twitterchat ein Buch zu gestalten, vorzuhalten ist:
- Der #edchatde ist das Produkt einer Community, die sich austauscht. Wenn daraus ein Buch entsteht, wäre wünschbar, dass das nicht als »Geheimprojekt« abgewickelt wird, sondern für die Community transparent (und im Idealfall mit Mitsprachemöglichkeit).
- Twitter ist enorm kontextsensitiv. Hier Beiträge aus dem digitalen Zusammenhang zu reißen, Links zu Texten zu machen, Autorinnen und Autoren nicht zu nennen führt zu Problemen, zu Unsauberkeiten.
- Im Buch wird die Bedeutung von OER (Open Educational Resources) klar benannt. Es ist innovativ, dass das Buch als OER publiziert wurde und CC-BY-SA veröffentlicht wurde. Doch leider wurde das Buch digital nicht publiziert – Standard wäre für mich eine aufbereitete Online-Version (vgl. z.B. Wiki-Weg des Lernens), die leicht kopier-, verlink- und adaptierbar wäre – sondern nur als eBook (epub und Kindle) zum Verkauf angeboten.
Es scheint, als hätte der Verlag hier versucht, das Buch zu monetarisieren, indem die digitale Version in einer ersten Phase zurückgehalten wird. Versprochen ist eine Publikation einer Online-Version zumindest.
Fazit: Wer sich in einem gedruckten Buch mit den Möglichkeiten von Twitter-Diskussionen im Bildungsbereich vertraut machen will, kann das dem #edchatde-Buch gewinnbringend tun. Es ist auch ein Produkt, das die Leistungen und Bemühungen der engagierten Lehrkräfte, welche Woche für Woche einen Chat vorbereiten, moderieren und nachbereiten, sichtbar macht.
Eine fundierte Auseinandersetzung mit Digitialisierungsthemen kann das Buch nicht anbieten, weil es letztlich nur Diskussionen kuratiert abbildet und auch verzerrt. Das Projekt verstößt auf den ersten Blick gegen von den Herausgebern hochgehaltenen Prinzipien, es ist das Resultat der Arbeit einer Community, ohne wirklich das Resultat der Arbeit einer Community zu sein; es wird als OER angepriesen, ohne wirklich OER zu sein. Diese Chancen wurden aus meiner Sicht verpasst.
Nach der Diskussion bleibt am Ende des Tages die Kritik, dass das gedruckte Buch halbgare OER ist und völlig unpraktisch in der Handhabung. Die buchaffinen Lehrerinnen und Lehrer damit erreichen zu wollen, ist löblich, aber wer glaubt denn, dass man einen oder gar zig ellenlange Links aus dem Buch abtippt?! Hier hätte auch ich mehr redaktionelle Arbeit und beispielsweise ein begleitendes Wiki erwartet – Philippe hat ja den passenden Verweis auf das Vorzeige-Wiki „Weg des Lernens“ parat. So bleibt dem Projekt ein fader Beigeschmack anhaften und Ärger bei so manchem, der Geld für die gedruckte Variante ausgegeben hat.
Ich schätze Peter Ringeisen sehr. Aber: Warum macht er sich (nicht nur hier) zu einem Apologeten der #Founder? Das ist vollkommen unnötig und irgendwie leider auch entwürdigend.
Wenn ein Anliegen der Veröffentlichung ist, Menschen zu erreichen, die bisher keinen Kontakt mit Social Media und speziell mit Twitter haben, dann ist das gedruckte Buch eine Öffnung des Formats, keine Verengung.
Zu der Frage, was genau du mit „digital publizieren“ meinst, äußere ich mich hier nicht mehr. Da müsstest du mir schon zunächst erklären, welchen Grad an Perfektion du mit welchen Mitteln in Zusammenarbeit mit einem Verlag (oder ohne) erreicht hättest.
Klar, man kann das als Leistung würdigen, was hier erreicht worden ist. Die Leistung des Verlags kann ich in diesem Fall nicht abschätzen. Der Grad der Perfektion, den ich erreicht hätte, würde von meinen Zielen und Ressourcen abhängen – die ich transparent kommunizieren würde. Generell denke ich, meine Arbeiten sind recht gut in offenen Formaten greifbar – mit Ausnahme meiner drei Bücher, die aber zu großen Teilen aus »digital publizierten« Vorarbeiten bestehen.
„digital nicht publiziert“?
Es gibt bei Amazon eine „Kindle“-Version, bei iTunes eine „iBook“-Version und bei diversen Online-Buchhändlern eine „eBook“-Version.
Danke für den Hinweis auf den „Wiki-Weg des Lernens“ – ein sehr interessantes Projekt.
Der Satz geht ja noch weiter…
Ja. Aber er beginnt so.
„Es scheint, als hätte der Verlag hier versucht, das Buch zu monetarisieren“ – bitte: Was soll ein *Verlag* anderes tun, als ein Buch zu „monetarisieren“? Was meinst du, wer den Grafiker bezahlt, das Lektorat, die Redaktion?
Natürlich kennst du die Antworten auf diese Fragen selbst. Ich frage mich deshalb, warum du so tust, als ob ein Unternehmen, von dessen Einnahmen Angestellte bezahlt werden, von Luft und Liebe leben könnte?
Du antwortest (vermutlich): Wegen der Lizenzbedingung.
Ich antworte: Dass der Verlag hofft, es mögen einige am Erwerb einer bezahlten Darreichungsform interessiert sein, darf man ihm nicht übelnehmen (Grund: siehe oben).
»digital publizieren« meint in meinem Beitrag halt was anderes als ein eBook veröffentlichen. // Ich habe keine Aussagen zur Finanzierung eines Buches gemacht. Finanzierung von OER ist ein schwieriges Thema. Vielleicht müsste man das ansprechen, wenn man solche Kompromisse macht. Natürlich kann man die Position vertreten, dass das besser ist als herkömmliche Modelle, weil ja doch alles geteilt werden kann. Aber das ist keine besonders starke Argumentation, wenn man zuvor über OER diskutiert hat und festgehalten hat, wie wichtig es ist, dass Formate verwendet werden, die leicht übertragbar und adaptierbar sind. Und auch nicht dann, wenn man weitgehend Inhalte aus einem offenen Wiki-Format weniger offen macht.
Also OER für 15,99 € (Kindle Version) ist nicht wirklich eine digital publizierte OER.