Kreativ schreiben mit »Don’t Starve« 

»Computerspiele [sind] inzwischen die eigentliche Form digitaler Jugendliteratur.« Diese von Axel Krommer leicht überspitzt formulierte Einsicht weist darauf hin, dass die Deutschdidaktik und die Bildungspolitik von einem sehr engen Textbegriff ausgehen, der im Rahmen der Digitalisierung einer Revision bedarf. (S. 50)

Dieser Abschnitt leitet ein Kapitel meines neuen Buches »Digitaler Deutschunterricht« ein, in dem ich dafür plädiere, digitale Texte als Unterrichtsgegenstände und Lernumgebungen wahrzunehmen und einzusetzen. Im Folgenden Beitrag präsentiere ich ein konkretes Beispiel. Die dazugehörige Unterrichtseinheit habe ich im Herbst 2016 mit einer 10. Klasse an einem Gymnasium umgesetzt.

»Don’t Starve« 

Das Spiel »Don’t Starve« ist ein recht schwieriges Überlebensspiel. Es wurde von so genannten Independent-Entwicklern publiziert (Klei Entertainment) – was generell eine gute Voraussetzung für im Unterricht eingesetzte Titel ist, weil Schülerinnen und Schüler eher selten Independent-Spiele spielen. Zudem ist es auf recht vielen Plattformen verfügbar und kostet ungefähr so viel wie ein Taschenbuch.

Im Spiel übernehmen die Spielenden eine Figur, die von einem Dämon in einer unwirtlichen Welt freigesetzt wird. Tag und Nacht wechseln sich wie Jahreszeiten recht schnell ab und verändern die Bedingungen des Spiels. Während die Figur bei physischer und psychischer Gesundheit gehalten werden muss, kann sie eine Art Basis mit Landwirtschaft bauen, aber auch die Geschichte freilegen, die dazu geführt hat, dass sie in dieser Welt gefangen ist.

Der für den Deutschunterrichte interessante Teil liegt darin, dass die Spielenden die relevante Geschichte durch das Spielen erzählen, sie gestalten sie gewissermaßen selbst. Hinzu kommt die durch einen an Tim Burton angelehnten Stil erzeugte düstere, bedrohliche, aber auch humorvolle Atmosphäre des Spiels.

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Lektüre eines Computerspiels

Die Lektüre eines Computerspiels im Deutschunterricht ist nicht ganz einfach (vgl. dazu auch meinen Aufsatz zu »Sunrise«). Die Erfahrungen und Einstellungen Computerspielen gegenüber sind sehr unterschiedlich: Neben Schülern mit ganz spezifischen Spielpräferenzen und -gewohnheiten gab es in der am Projekt beteiligten Klasse eine Reihe von Schülerinnen, die über minimale Erfahrung mit Computerspielen verfügen.

Entsprechend heterogen waren die Ergebnisse der ersten Beschäftigungsphase mit dem Spiel: Nach dem Kauf (bei Steam) lautete der Auftrag, jede Woche eine Stunde zu spielen. Die Klasse arbeitet im BYOD-System, alle Mitglieder benutzen in der Schule einen persönlichen Laptop. Zwischen den Spielphasen erfolgte jeweils ein Austausch zwischen den Mitgliedern der Klasse (und mir).

Kreatives Schreiben

Statt einer Analyse des Spiels schloss an die Lektüre der Auftrag an, einen kreativen Text zu verfassen, der die Atmosphäre und die beim Spielen erlebten Gefühle als Ausgangspunkt nimmt.

Aus kürzeren Texten, die direkt im Anschluss an Spielphasen verfasst wurden, ergab sich über mehrere Wochen ein Entwurf für einen längeren Text.

Peer-Feedback

Folgt man den Einsichten von Schnetzer, dann eignet sich Peer-Feedback insbesondere dazu, von einer traditionellen Aufsatzlehre hin zu einem prozessorientierten Verständnis von Schreiben zu gelangen. (S. 86)

Auch diese Einsicht aus »Digitaler Deutschunterricht« wurde im Projekt beherzigt. Die Schülerinnen und Schüler arbeiteten alle mit den ihnen vertrauten Textverarbeitungsprogrammen. Sie publizierten die Dokumente und veröffentlichten die Links in einem Google-Drive-Ordner. Damit war Peer-Feedback möglich. Auch ich gab viele Rückmeldungen auf die Texte, bat aber die Lernenden, dieses Feedback auch gezielt einzufordern.

Ergebnisse

Die Schülerinnen und Schüler steckten viel Energie in die teilweise auch längeren Texte. Während einige – wohl auch aufgrund ihrer Lektüreerfahrungen mit Jugendliteratur – den Text als ein erstes Kapitel für einen Jugendroman gestalteten, orientierten sich andere mehr am Muster einer Kurzgeschichte. Ungefähr ein Viertel der Texte hatte einen experimentellen, originellen Charakter.

Im Folgenden vier Beispiele dafür. Der erste Text erzählt metafiktional aus der Perspektive einer Figur, die im Computerspiel lebt und unter den Arbeitsbedingungen leidet:

Diese Welt am anderen Ende vom Tunnel kommt mir bekannt vor. Zwar heisst es für die Spieler, sie würden immer eine neue Welt generieren, aber ich habe hinter den Kulissen erleben können, wie sie zufällig eine von den tausend möglichen Welten auswählen. Eine richtige Verarschung, aber es scheint niemandem aufzufallen. In meiner ersten Arbeitswoche hatte ich mit verlaufen und trat aus Versehen in einen der Räume, wo ein Schild mit “Betreten verboten” hängt. Ich konnte ja nicht anders. Heutzutage wird man in unseren Schulen nur für das spätere Arbeitsleben vorbereitet. Lesen ist bloss ein Freifach. Aber Gott sei Dank weiss ich, wie ich von diesen Dummköpfen gesteuert und kontrolliert werde, nur damit sie auf ihren kleinen Computern Spass haben.

Im zweiten Beispiel wird das Spielprinzip (Verwirrung, nur handeln generiert eine Erzählung) auf eine Beziehung übertragen:

»Was, wie soll das denn funktionieren?!«, rief ich geschockt. Belustigt schaute mir Jason in die Augen: »Du musst springen.« Der Krater war so tief, dass ich den Boden nicht sehen konnte und ich sollte da runter springen? Wollten sie mich etwa nur loswerden? »Ich springe aber nicht zuerst«, sagte ich ruhig. »Gut, ich bin der erste«, rief Liam, während er sich schon wagemutig hinunter stürzte. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Er war doch nicht etwa einfach in den Krater gesprungen, ohne sich Gedanken über die Konsequenzen zu machen? »Jetzt du.« Konnte mich Jason nicht einfach in Ruhe lassen, wieso verlangte er sowas von mir? Spielte er ein Spiel mit mir?

Ein dritter Text fokussiert am Schluss auf die Hintergrundgeschichte von »Don’t Starve«:

Ich vergass die Uhrzeit und plötzlich war ich weg. Als ich unten an der Treppe angelangt war, begegnete ich meiner Mutter. Sie sah mich an und sagte mit trockener Stimme: «Ich musste dich gestern ins Bett tragen, du warst wie weggetreten und auf deinem Bildschirm waren nur noch schwarze Schwaden zu erkennen.» Mir kam keine Antwort in den Sinn. Doch ich wusste, welch dunkler Macht ich entgangen war. Denn irgendwo sass ein Magier namens Maxwell und er wusste, dass er dieses eine Mal versagt hatte.

Und zum Schluss eine eher existenziell geprägte Erzählung:

Er wacht immer taub auf. Er weiss nicht, wo er ist. Wer er ist. Er kennt die Welt nicht, und gleichzeitig doch. Er weiss was alles ist, wie alles heisst. Aber er weiss nicht, wie er diese Sachen weiss.  

Er weiss nicht, dass er alles wieder vergessen wird. Aber auf einer Art und Weise doch, denn bevor es anfängt, versucht er sich alles zu merken. Denn er möchte nicht vergessen. Weil wenn er vergisst, geht ein Teil von ihm verloren. Und er hat Angst, sich ganz zu verlieren.

Er versucht auch, sich zu erinnern. Denn er spürt irgendwie, dass es etwas zu erinnern gibt. Er scheitert immer. Aber er gibt nie auf. Hoffnung ist das einzige, was immer bei ihm bleibt.

Die Bewertung der Texte erfolgte aufgrund von Kritierien, welche die Klasse gemeinsam festlegte. Zentral war dabei eine starke Wirkung auf die Leserin oder den Leser sowie die Nachvollziehbarkeit des Plots und ein breiter Wortschatz.

Auswertung

Das Projekt führte zu einer intensiven Arbeitsphase an interessanten Texten. Im Vergleich mit anderen größeren Aufträgen im Bereich des kreativen Schreibens halte ich die Ergebnisse für überdurchschnittlich gut.

Die Auseinandersetzung mit dem Spiel hingegen war weder für die Klasse noch für mich zufriedenstellend. Während einige Lernende generell Widerstände gegen das Spielen von Computerspielen haben und es als Zeitverschwendung taxieren, hätten andere gerne mehr Zeit gehabt, um das Spiel zu erproben.

Auch die Auseinandersetzung zum Spiel wurden als zu wenig ergiebig beurteilt. Für einige warn auch die Struktur des Peer-Feedbacks und die Rhythmisierung der Arbeit an einem längeren Text mit Problemen verbunden.

Für eine Wiederholung habe ich mir folgende Punkte vorgenommen:

  1. Orientierung an konkreten Spielzielen, die erreicht werden sollten.
  2. Spielzeit im Unterricht gebe, damit Erlebnisse direkt in den Austausch einfließen können.
  3. Binnendifferenzierung in der Klasse anstreben: Unterschiedliche Spiele, unterschiedliche Lernziele.
  4. Vorgängige Einführung des Prinzips Peer-Feedback.

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5 Kommentare

  1. JJ sagt:

    Sehr interessanter Artikel. Und den Artikel zum Einsatz von Sunset – hier übrigens falsch verlinkt als „Sunrise“ – fand ich sogar noch spannender, weil er ausführlicher ist, wissenschaftlich noch mehr in die Tiefe geht und viele hochrelevante Quellen verwendet!
    Vielen Dank für die praktischen und sehr anschaulichen Einblicke in ein Themenfeld, dass in der Theorie zu Recht bereits einige Aufmerksamkeit erhalten hat.

    Auf die ein oder andere Weise wird Ihre tolle Arbeit meine Masterthesis (Wirtschaftlichkeit von Serious Games) mit Sicherheit bereichern.

    1. JJ sagt:

      Was hielten sie im Übrigen vom Einsatz des Spiels „This War of Mine“ im Unterricht? Der Fokus liegt auf moralischen Wertentscheidungen, die maßgeblichen Einfluss auf den Spielverlauf und das finale Ergebnis des Spiels haben. Thematisch behandelt es das Schicksal von Zivilisten im Krieg. Sound- und Grafikdesign sind entsprechend düster, realistisch und grau.

  2. @byland sagt:

    Das scheint mir ein sehr kreativer Zugang zum Schreiben von Texten zu sein. Wichtig ist aber auch deine persönliche To do-Liste am Schluss. Zum Punkt 4) dies: Peer-Feedback funktioniert, wenn die Texte aller leicht zugänglich sind. Ich habe da, wie du weisst, beste Erfahrungen gemacht mit BSCW: da sind alle Texte für alle auf einen Blick sichtbar, natürlich auch die entsprechenden Feedbacks. Und das wiederum motiviert zusätzlich, sorgfältige Feedbacks zu geben.

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