Wertevermittlung und Social Media

Man müsse »die Jungen dringend zu einer Social-Media-Ethik erziehen«, hieß es diese Woche in einer Einleitung zu einem Tages-Anzeiger-Artikel über den Suizid einer italienischen Frau, welche durch die Verbreitung eines intimen Videos entwürdigt worden war. Diese Forderung gehört zum medienpädagogischen Kanon: Werteerziehung scheint im Kontext neuer Medien besonders wichtig zu sein.

Übergibt man diese Aufgabe an Lehrpersonen oder die Schule, dann geht man implizit davon aus, es gäbe einen verbindlichen Konsens darüber, welche Werte denn an Jugendliche vermittelt werden sollen und wie das geschehen könnte. Blickt man in die Fachliteratur, dann entsteht ein anderes Bild:

Vor dem Hintergrund einer konstruktivistisch basierten Didaktik besteht die Rolle der Lehrenden in einem wertorientierten Unterricht also darin, Situationen bereitzustellen, in denen die Entwicklung ethischer Kompetenzen angebahnt wird. Denn das Werten kann sich nicht mehr an Werten orientieren, sondern die Werte entstehen beim Werten, so könnte man pointiert formulieren.

So beschreibt Sabine Anselm das Problem der Werteerziehung: Ihre Funktion und ihre Anbindung an persönliche Erfahrung setzen eigenes Erleben voraus, in dem Entscheidungen getroffen werden, die eine Wertereflexion bedingen.

Man kann das an folgendem Beispiel reflektieren: Gymnasien in der Schweiz beschließen immer mal wieder, Studienreisen nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu absolvieren. Die Schülerinnen und Schüler verstehen dieses Gebot meist nicht: Fliegen oder private Busreisen sind günstiger und bequemer, das Verbot der Schule schränkt ihren Handlungsspielraum ein. Zudem scheinen die Lehrkräfte selbst sich privat nicht daran zu halten, sie verfügen diese Werte, ohne sie sich zueigen gemacht zu haben. Diese Maßnahme wird aber als Werteerziehung verkauft: Sie soll vermitteln, dass CO2-Ausstoß eingeschränkt werden soll und Individuen Verantwortung für ihre Konsumentscheidungen übernehmen sollen – indem sie gerade diese Verantwortung den Jugendlichen entzieht.

So kann sich eine kontraproduktive Wirkung einstellen: Jugendliche lehnen diese fremden Werte als übertrieben und weltfremd ab, verinnerlichen aber die Führungsstruktur, die bestimmt, statt partizipative Entscheidungen zu ermöglichen. Das Dilemma der Wertevermittlung: Die Bildung von Werten kann angeregt werden – welche Werte das aber sind, lässt sich nur annäherungsweise bestimmen.

Zurück zum Thema Social Media. Lesenswert ist hier ein Statement aus einem Spiegel-Interview mit Eve Herzing:

Eine tiefsitzende Wurzel ist die Erziehung zum digitalen Dualismus, wie es Nathan Jurgenson genannt hat, also: zu einem Denken, das zwischen vermeintlich realem Leben und virtuellem Onlineleben trennt. Dadurch ist über Jahrzehnte hinweg die Idee genährt worden, dass alles was online gepostet wird nicht „real“ sei. Das rächt sich nun bitterlich. Es gibt schlicht und einfach auch hierzulande weitverbreiteten Alltagsrassismus, -homo&transphobie und -misogynie. Die Hasskommentare im Netz kommen uns geballter vor, weil sie dort nachlesbar, sammelbar und damit sichtbarer sind, während verbale Hasskommentare im Alltag in tausende kleiner Einzelerfahrungen fragmentiert sind, die meist keine gemeinsame Stimme und damit keine breite Öffentlichkeit finden.

Die Wertebildung wird also schon durch das Verständnis der medialen Kanäle geprägt – die ständigen Mahnungen zur Vorsicht und die Belehrungen über Gefahren bei der Online-Kommmunikation vermitteln die falschen Werte und sind gerade der Nährboden für Übergriffe und Hass. Gleichzeitig wird ausgeblendet, dass Jugendliche über viele Erfahrungen verfügen, sie können bewerten, was die Verbreitung von Inhalten auslösen kann, weil sie das schon oft erlebt haben. Das mediale Wertegerüst von Jugendlichen unterscheidet sich stark von der Wahrnehmung bei Erwachsenen: Es ist beispielsweise völlig falsch anzunehmen, junge Menschen würden ihr ganzes Leben wahllos in Neuen Medien abbilden und hätten keine Vorstellungen von Datenschutz.

»Situationen bereitzustellen, in denen die Entwicklung ethischer Kompetenzen angebahnt wird« – mehr als das, können Schulen nicht tun. Die echte Arbeit mit digitalen Kanälen ist die einzige Art, wie diese Art der Wertevermittlung stattfinden kann. Alles andere ist mit falschen Erwartungen und paradoxen Effekten verbunden. Leider.

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