Dieser Beitrag greift ein Blogstöckchen von Timo van Treecks auf, das mir Urs Henning zugeworfen hat.
Gestern habe ich im Whitney Museum Mike Kelleys »Educational Complex« von 1995 gesehen. Der amerikanische Künstler (1954-2012) hat alle Schulen, die er besucht hat, in Zusammenarbeit mit einem Modellbauer aus der Erinnerung rekonstruiert und zu einer »Superschule« zusammengesetzt.
Kelley hat zwar die Baupläne hinzugezogen – gleichwohl aber Fehler, die er gemacht hat (z.B. öffnen Türen andersrum als er sich daran erinnert hat), nicht korrigiert. Seine Modelle weisen große Lücken auf, weil er sich an bestimmte Teile der Schulgebäude nicht mehr erinnern konnte.
Mit dem Wortspiel »Educational Complex« im Titel seiner Arbeit verweist er auf die »Obsession des Öffentlichkeit« mit Kindesmissbrauch und unterdrückter Erinnerung: Wenn Traumata dazu führten, dass eine Erinnerung fehlte, dann müsste letztlich seine fehlende Erinnerung an Teile der Schulgebäude Resultat traumatischer Erfahrung sein. Das sieht man dem Modell nicht an, es wird erst denkbar, wenn die Theorie hinzugezogen wird.
Kelley schaut mit einem dystopischen Blick auf die Schule und ihre Architektur:
In utopian projects, moral and aesthetic dimensions are presented, often openly and dramatically, as mirrors of each other. Of course, my project is a perversion of such an attitude: I present an obviously dystopian architecture, reflecting our true, chaotic social conditions, rather than some idealized dream of wholeness.
Der dystopische Blick ist die Kehrseite einer utopischen Vorstellung von Schulraum. In ihren Studien zur Schularchitektur hat Jeannette Böhme diese herausgearbeitet. Schulraumarchitektur oszilliert zwischen der Konzeptionen des Schonraums, der Lernenden eine optimale Entwicklung abseits schädlicher Einflüsse der Umwelt erlaubt, und der Vorstellung des Kontrollraums, in dem Lernen normalisiert und Schülerinnen und Schüler diszipliniert werden. Böhmes Fazit:
Die institutionellen Raumentwürfe von 600 Schulen verweisen auf ein höchst streitbares Potenzial für die zukünftige Schulentwicklung in Deutschland. Schulen verteidigen ihre Grenzziehungen zwischen dem schulpädagogischen Innenraum und dem außerschulischen Raum und zielen auf eine Homogenisierung von Lerngruppen, gemessen an Standards und Normalitätsmodellen. Zudem werden diese schulischen Raumentwürfe metaphysisch begründet und damit kritikresistent legitimiert. Vor dem Hintergrund der Entgrenzungen des Pädagogischen entwirft sich die Schule distinktiv zu den pädagogischen Gefügen, die sich informell, transmedial oder globalisiert etablieren. Mit Blick auf die beiden dominanten Raumentwürfe konstruiert sich Schule als kulturelles Bildungsmonopol. Dabei werden Strategien der Schließung des Raums angestrebt, was für eine institutionelle Arbeit an einer Verschulung der Schule steht. Die Schließung des schulpädagogischen Raums zielt auf eine Verortung von Lern- und Bildungsprozessen.
Soll nun im Hinblick auf die künftige Entwicklung von Schulraum ein Ideal formuliert werden – das habe ich ausführlich in meinem Aufsatz »Ein Haus für die erweiterte Lernwelt« getan – dann stehen solche Vorstellung häufig in einem Gegensatz zu Begründungen, Rahmungen und Muster der Schulhausarchitektur. Urs Henning schreibt etwa:
Wir sollten heute keine Schulhäuser mehr planen oder umbauen ohne den Blick auf das Lehren und Lernen der Zukunft. Der klassische Unterricht sollte mit Einbezug des virtuellen Lehr- und Lernraums geöffnet werden, formales und informelles Lernen sollten vermehrt ineinandergreifen können. Mit den Lernorten müssten auch die Lernzeiten, die Lerninhalte und die Rolle der Lernbeteiligten neu festgelegt werden.
»Informelles Lernen«, Öffnung des Schulraums und Vernetzung sind zwar im Diskurs über das Lernen der Zukunft elementar, sie widersprechen aber gesellschaftspolitischen Leitlinien für die Schule. Kürzlich habe ich mich mit einer Architektin unterhalten, deren Büro Krankenhäuser entwirft. Sie bekämen deswegen keine Aufträge, so offenbar die Aussage eines Büropartners, weil sie sich zu stark am Krankenhaus der Zukunft orientieren, das offen und flexibel sei, während die Verantwortlichen von den aktuell existierenden Abteilungen und Betten aus dächten.
Meine pessimistische Sicht auf die Schul(raum)entwicklung hängt mit meiner Abneigung gegen das Denken in Visionen zusammen:
Warum sollte man sich also nicht dem hingeben, was man auf Englisch »think outside the box« nennt? Weil – so denke ich – die Box deshalb nicht weggeht. Man denkt und kriecht danach wieder in die Box rein.
Umgekehrt ist ja die Idee der Formulierung utopischer Vorstellungen, dass daraus die Kraft entstehen könnte, verändertes Denken tatsächlich umzusetzen. Doch wie Henning richtig sieht, sind Lernformen und Lernorte dialektisch verbunden, sie begründen einander gegenseitig. Der utopische Ruck muss auf zwei Ebenen gleichzeitig erfolgen. Das mag unter Fachleuten auch ein Konsens darstellen, lässt sich jedoch angesichts einer Tendenz zur Standardisierung von Bildung schwer vermitteln und umsetzen.
Kehrt man zu Kelleys Arbeit zurück, dann fällt auf, dass er auch das Haus seiner Eltern in Westland, Michigan, zum Komplex hinzugefügt hat (vgl. Miller, S. 8). Für den innovativen Künstler ist zwar sein Zuhause ein Lernort, aber wie alle anderen ein geschlossener. Lernen ist an ein Gebäude gebunden – darin aber sozial und psychologisch enorm komplex strukturiert (langsam überstrapaziert, ich weiß). Die Verbindung zwischen Gebäuden und einem Kompetenzerwerb hat keine logische Basis, sie ist allenfalls eine logistische Abkürzung. Gleichwohl steckt sie aber auch in der Frage nach Lernorten der Zukunft, nach dem Lernraum der Zukunft drin. Vielleicht müsste man deshalb die Frage zurückweisen, von einem raumgelösten Lernen als Vision sprechen. Schülerinnen und Schüler auffordern, eine Weile lang den etablierten Lernort zu verlassen und zu beobachten, was sich verändert.
Diese Überlegungen zu Schulort/-bau und Lernen bringen mir machtvoll das Buch von Ivan Illich zur Entschulung von Schule und Gesellschaft in Erinnerung, welches Jahrzehnte nach seinem Erscheinen aktueller scheint den je. Schule erscheint mir oft als eine Art Simulation von Lernen, welche weniger Lernen, als Anpassung zum Ziel hat. Dabei bin ich als Schulleiter täglich mit der Schwierigkeit der Transformation konfontiert. Ich bin aber trotzdem nicht pessimistisch betreffend Visionen, sondern überzeugt von deren Notwendigkeit. Im Zusammenhang mit Lernort ist der „weltbeste Kindergarten“ der auf Ted von einem japanischen Architekten dargestellt wird ein überzeugendes Beispiel dafür, wie Architektur eine Lernumgebung schaffen kann, in der vieles natürlich geschehen kann, z.B Bewgung und Körperkoordination mit sozialem Lernen verknüpft wird, ohne für diese Lernprozesse jeweils teure abgetrennte Lernorte zu benötigen wie Turnhallen etc..