Kommentarkultur als Spiel und Lernumgebung

Ein Team mit unterschiedlichen Hintergründen (soziale Arbeit, Geschichte und Philosophie, visuelle Kommunikation, Game Development, Unterricht) hat im Rahmen des Gamejams zu »Flucht und Vertreibung« der Bundeszentrale für politische Bildung das Spiel Moderate Cuddlefish programmiert. Die Spielerin oder der Spieler übernimmt die Aufgabe, eine Netz Community durch die Moderation von Kommentaren zu begleiten. Zu Beginn des Spiels werden die AGB der Community eingeblendet – sie stellen die Spielregeln dar. Gleichzeitig dürfen die Mitglieder nicht verärgert werden, indem Posts mit vielen Likes gelöscht werden. Während des Spiels werden laufend Kommentare angezeigt, die nur gelöscht werden können. Am Schluss wird errechnet, ob die Community gewachsen oder geschrumpft ist, eine detaillierte Auswertung zeigt an, welche Löschentscheide damit verbunden sind.

 

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Der Kommentar zum Spiel arbeitet die Absichten des Teams deutlich heraus:

Die spielende Person soll authentisch den Entscheidungsdruck eines Moderierenden im Kontext von Social Media zur aktuellen Flüchtlingsdebatte nachspielen und nachempfinden. Hierzu gehört die unmittelbare Konfrontation mit Gesprächsgeschwindigkeit und Diskussionsüberschneidungen in einem Microblog. Entscheidungen werden durch news und Userverluste/ -gewinne und Zeit beeinflusst. Die individuelle demokratische Urteilsbildung soll kritisch angeregt werden.

Eine Visualisierung am Ende eines jeweiligen Levels ermöglicht, die eigenen Entscheidungen noch einmal kurz bewusst zu reflektieren. Zur Spielhandlung gehört der Umgang mit Reizwörtern, die Grenzbestimmung von Ironie und Verletzung und die Moderationsfertigkeit sich überkreuzende Gesprächsverläufe konstruktiv zu ordnen. Dieses Spiel beabsichtigt, den Perspektivwechsel vom Diskursteilnehmer auf Social-Media-Ebene auf den Verantwortungsbereich [von Moderierenden] zu übertragen.

Das Spiel, dessen Erweiterung und Entwicklung angekündigt wird, verweist auf einen bedeutsamen Lerngegenstand für den Deutschunterricht. Die Berichterstattung in Online-Portalen wie auch in gedruckten Zeitungen wird durch Klickzahlen und Kommentare beeinfluss und gesteuert (beide hängen zusammen: intensive Debatten führen zu vielen Zugriffen, bei vielen Zugriffen entstehen Debatten). Gleichzeitig haben im deutschsprachigen Raum die Newsrooms oft nicht genügend Kapazitäten, um Kommentare auf der Seite und auf den Social-Media-Kanälen so zu filtern, dass konstruktive Debatten mit einem Mehrwert für das Publikum der Publikation entstehen und sich Influencer beteiligen, also Personen mit hoher Reichweite und Meinungskraft.

Damit sind einige wenige Aspekte angetönt, die für die Entstehung einer nachhaltigen und sinnhaltigen Kommentarkultur notwendig sind. Doch die Problematik hat eine andere Seite, wie das folgende Beispiel zeigt, welches das Profil der österreichischen Autorin Stefanie Sprengnagel betrifft, die im Frühsommer 2016 in eine Online-Auseinandersetzung mit Thomas Glavinic verwickelt war, die hauptsächlich über Facebook ausgetragen wurde. In der Folge wurde ihr Profil gelöscht:

Es ist derzeit nicht ganz einfach mit Stefanie Sprengnagel in Kontakt zu treten. Man kann der österreicherischen Schriftstellerin zwar eine Nachricht über Facebook schreiben, aber Sprengnagel schreibt nicht zurück. Weil sie es nicht kann, denn sie ist auf Facebook gesperrt. Sprengnagel, besser bekannt unter ihrem Pseudonym Stefanie Sargnagel, ist eine ironische Person, ihre Texte sind oft Satire, ihre Haltung ist politisch in aller Regel links.
Würde sie das, was sie auf Facebook veröffentlicht, in einer Zeitung schreiben, entstünde gewiss ab und an eine Debatte über die Freiheit der Kunst. Auf Facebook aber drückt stattdessen ein Mitarbeiter die Taste Löschen – und die Sache ist erledigt. Natürlich nur für Facebook. Anderen Menschen fehlt ja etwas, nämlich der Text von Sprengnagel.
Perfide daran ist, dass die meisten Nutzer meist gar nicht wissen, dass etwas fehlt. Anders als in einem Gerichtsverfahren, ist die Öffentlichkeit nicht zugelassen, wenn Facebook seine Urteile fällt.

Der dialektische Zusammenhang zwischen Zensur und Meinungsäußerungsfreiheit ist die Kehrseite einer Debatte über eine toxische Kommentarkultur. Facebook und Twitter kämpfen um Marktanteile, sind aber gleichzeitig auf redaktionelle damit beschäftigt, Gesetzesverstöße und verbale Übergriffe, so genannte Hatespeech, unter Kontrolle zu bringen. So entsteht das Dilemma, einerseits den Benutzerinnen und Benutzern ein wirksames Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen, das sie gerne nutzen – sie aber gleichzeitig dahingehend zu disziplinieren, diesen Nutzen innerhalb moralisch vertretbaren Grenzen anzusiedeln. Social Media gehört zur Meinungsäußerungsfreiheit, die aber möglicherweise eingeschränkt werden muss, wenn man etwa Carsten Dobschat folgt:

Wenn man ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür schafft, dass Sprache und die Art und Weise, wie man miteinander kommuniziert eben durchaus verletzend und diskriminierend sein können, wenn man dafür arbeitet, dass die teilweise nun wirklich ins widerlichste abgestürzten Diskussionen im Netz wieder konstruktiv und sachlich geführt werden, dann ist das keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern ein echter Beitrag für Meinungsfreiheit. Denn nur in einem gesellschaftlichen Klima, in dem nicht Hasskommentare und diskriminierende Äußerungen die Regel bei Diskussionen sind, trauen sich viele erst (wieder) ihre Meinung zu sagen! Jeder hat es schon gelesen oder gehört: „Das wird man wohl noch sagen dürfen“. Interessant an dem Satz und denen, die ihn am häufigsten gebrauchen ist aber eher, dass diese Personen widersprechende Meinungen nur ganz schwer ertragen können und sie gerne beseitigen würden.

Dieser Komplex gehört ins Curriculum eines zeitgemäßen Deutschunterrichts, weil er die Meinungsbildung breiter Bevölkerungsteile, ein Bewusstsein über die Macht der Sprache, ein Verständnis von Freiheit und Grundrechten sowie Entwicklungen der Medienlandschaft betrifft. Werden Schülerinnen und Schüler in klassische Modelle des Journalismus eingeführt, machen sie sich falsche Vorstellung über reale Abläufe in Readaktionen und die Rezeption von Nachrichten. Folgende Zugänge bieten sich für eine Auseinandersetzung an:

  • Die spielerische Aufforderung des Cuddlefish-Teams, Kommentare zu moderieren, kann leicht in analoge Settings übersetzt werden, wenn etwa Kommentarspalten ausgedruckt als Diskussionsgrundlage dienen und Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden, Entscheidungen zu fällen.
  • Die Teilnahme an Debatten kann im Unterricht vorbereitet und in einem realen Setting durchgeführt werden. Die Schwerfälligkeit bei der Publikation von Leserbriefen entfällt, im Unterricht erarbeitete Kommentare werden in einem realen Setting gelesen und erhalten Rückmeldungen.
  • Viele Sachtexte – vgl. z.B. die Links zu diesem Beitrag oder die Texte und Vorträge von Ingrid Brodnig (guter Einstieg ist dieser Text) – laden zu Diskussionen und zur Bildung einer eigenen Meinung ein. Die Themen Hatespeech und Kommentarkultur laden gerade im Zusammenhang mit der Möglichkeit, anonym oder pseudonym seine Meinung zu äußern, zu heftigen Debatten ein. Das Beispiel der Münkler-Watch, also des anonymen Blog, in dem eine Lehrveranstaltung der Berliner Professors kritisiert wurde, kann leicht auf den Deutschunterricht adaptiert werden: Wäre es legitim, das Fach mit einem anonymen Blog zu begleiten? Aus solchen Fragen können argumentative Texte entstehen, die z.B. im Rahmen einer Blog-Arbeit die Basis für eine Reihe von Beiträgen darstellen könnten.

Hier wird deutlich, wie wenig mit einer formale Kompetenzorientierung gewonnen ist: Die Fähigkeit, wirksame Kommentare zu schreiben, beherrschen Trolle bis zur Perfektion. Sie machen einerseits sichtbar, wo Grenzen von Systemen, Menschen und Kommunikationsvorgängen liegen (vgl. meinen Vortrag von 2012 unten), gleichzeitig überschreiten sie diese Grenzen auch ständig und bewirken so zu Abwertungen und Verletzungen bei anderen Menschen. Eine sinnvolle Unterrichtseinheit ermöglicht Jugendlichen, sich eigene Urteile zu bilden, auf deren Basis ihre Teilhabe und ihr Engagement an und in der Gesellschaft möglich ist.

2 Kommentare

  1. valerievonlux sagt:

    Das ist ein ganz wunderbarer Artikel, der Demokratiekompetenz genau dort lehrt, wo sie benötigt wird: In den sozialen Medien. Weiter so!

  2. brueedi sagt:

    Ich habe eben mit grossem Interesse das Referat „Warum die Schule Trolle braucht“ angehört. Mit grossem Interesse deshalb, weil ich auch schon, und mindestens von einem Lehrer noch immer als Troll bezeichnet wurde resp. werde.
    Nach diesem Referat meine ich, gewisse Bedingungen erfüllen zu können, wenigstens ansatzweise situativ trollig sein zu können – und ich bin gar nicht so unglücklich darüber. Bedauerlich finde ich nur, wenn ich in einer bestimmten Situation des Trolls „überführt“ werde, nur weil ich über eine bestimmte Sache eine Diskussion provozieren will.

    Auf jeden Fall danke ich Philippe Wampfler für das Referat.

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