Die zwiespältigen Cargo-Kulte

Cargo-Kulte verweisen auf eine religiöse Praxis indigener Völker auf melanesischen Pazifikinseln, die mit rituellen Handlungen Ahnen zu beschwören versuchten, sie mit westlichen Gütern zu beschenken. Die verschiedenen Kulte breiteten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts aus, erreichten aber einen Höhepunkt, als während des 2. Weltkriegs US-amerikanische Truppen auf den Inseln stationiert waren. Die Kultausübenden imitierten dabei die beobachteten Handlungen der Militärangehörigen, indem sie Kopfhörer schnitzten, Landebahnen nachahmten oder Flugzeuge aus Stroh bauten – alles in der Hoffnung, damit den Abwurf westlicher Güter bewirken zu können.

In einem viel beachteten Vortrag auf der Re:Publica 2016 interpretierte Günther Dueck diese Cargo-Kulte aus der Perspektive der Digitalisierung. Diese metaphorische Verwendungsweise hat sich in der Wissenschafts- und Managementkritik bereits etabliert – und lässt sich auch problemlos auf die digitale Arbeit in der Schule anwenden. Duecks zentrale Analyse lautet wie folgt:

Cargo-Kulte entstehen, wenn man beobachtete Rahmenbedingungen richtig steckt, aber das wesentlich Erhoffte nicht geschieht, weil etwas Zentrales nicht verstanden wurde.

Für die Schule könnte man das am Beispiel eines missglückten Einsatzes von Wikis zeigen: Weil bei Wikipedia Wissensmanagment kollaborativ erfolgt, könnte die Cargo-Kult-Annahme lauten, dass die Verfügbarkeit von Wikis alleine ausreicht, um Wissensaufbau in der Zusammenarbeit erfolgreich durchzuführen. (In der Fachliteratur, etwa bei Notari und Döbeli Honegger (2013), kann man nachlesen, wie die Kollaboration didaktisch professionell anzuleiten ist.)

Verallgemeinert kann man von einem Cargo-Kult sprechen, wenn Werkzeuge oder Technik zwar bereit gestellt wird, die didaktischen Settings aber nicht dazu geeignet sind, dass die gesteckten Ziele damit erreicht werden. So scheitern viele digitale Projekte in Schulen daran, dass informelles Lernen, zu dem eine hohe Autonomie der Lernenden in Bezug auf Methoden, Kooperation, Darstellung und Zeiteinteilung erforderlich ist, ignoriert oder sogar explizit ausgeschlossen wird. Der Zwang zu einer (meist individuellen) Bewertung und zur kontrollierenden Begleitung durch Lehrkräfte verhindert so gerade die Effekte, welche für den Erfolg der Projekte unablässig wären. So stellt sich der Eindruck ein, herkömmliche Methoden seien besser geeignet.

Tabletklassen und andere Formen digitaler Arbeit an Schulen werden unter dieser Perspektive schnell zu Cargo-Kulten. Vergessen geht dabei aber eine andere Sichtweise auf die Verhaltensweisen der polynesischen Gläubigen: Ihre Kulte waren ein Reflex von zwei grundlegenden Annahmen. Erstens waren sie davon überzeugt, dass ein gleichberechtigtes Verhältnis zu anderen Menschen nur dann möglich ist, wenn Güter von gleicher Qualität ausgetauscht werden – sie brauchten also westliche Güter, um mit den GIs oder den im Rahmen von Kolonialisierungsbemühungen Zugezogenen in einen paritätischen Austausch treten zu können. Zweitens waren für sie Wohlstand, Wohlergehen und auch Veränderung übernatürlichen Ursprungs – so dass es absolut vernünftig war, einen Kult zu organisieren, ja dieser unter Umständen für Außenstehende unsichtbare positive Effekte hatte.

Spiegelt man nun diese Interpretation der Kulte zurück auf die digitale Praxis an Schulen, wird deutlich, dass sich die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden möglicherweise auch dann verändert, wenn entscheidende Punkte übersehen werden. Auch Schulentwicklung kann sich in einem solchen Setting als sekundärer Effekt ergeben, der gar nicht intendiert war: Präsentiert sich eine Schule als innovativ, dann können auch fehlerhaft angelegte Projekte mit mangelhafter Wirkung dazu führen, dass Innovationen losgetreten werden.

9-12-the-cargo-cults
John-Frum-Kult in Vanuatu

1 Kommentar

  1. @byland sagt:

    An Duecks Referat hat mir speziell gefallen, dass man “ das Wollen wollen“ sollte, statt das „Müssen zu müssen“. Das spielt bei der Digitalisierung in der Schule vermutlich auch eine (nicht unbedeutende) Rolle. Wer – um sein Beispiel von einer Folie aufzunehmen – Tablets im Unterricht einsetzen WILL, betreibt keinen Cargo-Kult. Wer sie einsetzt, weil er/sie glaubt, damit „die Bildung retten zu MÜSSEN“, jedoch schon.

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