Digitale Einsamkeit – eine Denkfalle

We hide from each other even as we’re constantly connected to each other. For on our screens, we are tempted to present ourselves as we would like to be. Of course, performance is part of any meeting, anywhere, but online and at our leisure, it is easy to compose, edit and improve as we revise. […]
We slip into thinking that always being connected is going to make us less lonely. But we are at risk because it is actually the reverse: If we are unable to be alone, we will be more lonely. And if we don’t teach our children to be alone, they will only know how to be lonely.

Der Gedanke von Sherry Turkle – so formuliert in Reclaiming Conversation, S. 3 und 23 – wird von vielen geteilt: Die technologischen Möglichkeiten zum Aufbau und zur Pflege von Beziehungen seien nur eine Simulation von Beziehungen, die in ihr Gegenteil umschlagen – in radikale Einsamkeit. Sie wird durch die permanente Möglichkeit digitaler Interaktion nicht abgeschwächt, sondern verstärkt. Nur wer allein sein kann, so Turkles normative Forderung, könnte echte Gespräche führen und in realen sozialen Beziehungen Verantwortung übernehmen. (Dieser Gedanke hat eine Parallele in der Forderung, Kinder müssten sich langweilen, um kreativ oder lernfähig sein zu können.)

Diese konservative Sicht auf Social Media resultiert aus zwei Vergleichen: Die gefühlte Verbundenheit wird zunächst mit einer gewünschten Verbundenheit in Beziehung gesetzt. »Siehst du, du bist gar so nah an anderen Menschen, wie du das gerne wärst!« In einem zweiten Schritt wird suggeriert, »früher« sei das alles ganz anders gewesen. Vor der maschinellen Moderation und Auswertung sozialer Interaktionen (das meint ja der Bestandteil »Social« in Social Media), so die Annahme, seien Wünsche und soziale Realität enger verknüpft gewesen. Kommunikative Aktivität hätte zu echter Verbundenheit geführt.

Als Gegengift bietet sich ein Blick in die Literatur der Einsamkeit an, z.B. in Rilkes Brief an Kappus vom 23. Dezember 1903:

Mein lieber Herr Kappus,
Sie sollen nicht ohne einen Gruß von mir sein, wenn es Weihnachten wird und wenn Sie, inmitten des Festes, Ihre Einsamkeit schwerer tragen als sonst. Aber wenn Sie dann merken, daß sie groß ist, so freuen Sie sich dessen; denn was (so fragen Sie sich) wäre eine Einsamkeit, welche nicht Größe hätte; es gibt nur eine Einsamkeit, und die ist groß und ist nicht leicht zu tragen, und es kommen fast allen die Stunden, da Sie sie gerne vertauschen möchten gegen irgendeine noch so banale und billige Gemeinsamkeit, gegen den Schein einer geringen Übereinstimmung mit dem Nächstbesten, mit dem Unwürdigsten … Aber vielleicht sind das gerade die Stunden, wo die Einsamkeit wächst; denn ihr Wachsen ist schmerzhaft wie das Wachsen der Knaben und traurig wie der Anfang der Frühlinge. Aber das darf Sie nicht irre machen. Was not tut, ist doch nur dieses: Einsamkeit, große innere Einsamkeit. Insich-Gehen und stundenlang niemandem begegnen, – das muß man erreichen können. Einsam sein, wie man als Kind einsam war, als die Erwachsenen umhergingen, mit Dingen verflochten, die wichtig und groß schienen, weil die Großen so geschäftigt aussahen und weil man von ihrem Tun nichts begriff. […]

Diese Gedanken gibt es in der Moderne in beliebigen Variationen. Was sich bei Turkle als clevere Zeitdiagnose ausgibt, ist letztlich nichts als eine über 200-jährige kulturelle Konstante. Beziehungen und Authentizität leben von Rollen und Simulation, es gibt keine direkte Echtheit, keinen Zugang zu anderen ohne Vermittlung. Überall sind Zeichen.

Nur: Das ändert am Gefühl selbstverständlich nichts, es tröstet wenig. Es fühlen sich viele Menschen einsam und diese Einsamkeit wird in Kommunikationsprozessen deutlich wahrnehmbar. Jürgen Geuter hat das sehr persönlich und differenziert festgehalten.

Aber es spricht gegen einfache Rezepte. Eltern zu raten, Kinder müssten halt einmal allein sein oder sich langweilen, ist billiges Gerede. Wertvolle sind diese Rückzugsformen, wenn sie gewählt werden, nicht wenn sie erzwungen werden. Beide sind Kippbilder: Langeweile und Muße, Einsamkeit und Alleinsein gehen nahtlos ineinander über.

alte-oder-junge-frau-kippbild

1 Kommentar

  1. @byland sagt:

    Zu diesen Gedanken passt ganz gut die letzte „Sternstunde Philosophie“:
    http://www.srf.ch/play/tv/redirect/detail/173b2d88-50ab-4427-a9db-2e0436c43124
    Susan Pinker: Das gute Leben liegt offline

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