Philipp Meier hat als Community-Manager für das Webjournalismus-Projekt Watson gearbeitet. Nach seinem Abschied blickt er zurück und präsentiert einige Thesen über Social Media, denen ich im Folgenden eine Alternative zur Seite stellen möchte.

[Es gibt] nichts Schwammigeres als wenn für oder gegen ein Thema «Relevanz» ins Feld geführt wird. Im Prinzip geht es meistens darum, dass jemand damit seine oder ihre subjektive Meinung untermauern möchte (was nicht nur schlecht, denn das verleiht dem Journalismus eine erfrischende Zufälligkeit;)
Das ist Meiers Grundhaltung: Es gibt subjektive Meinungen über die Welt. »Ehrlicher« Journalismus präsentiert diese subjektiven Meinungen (etwa in den spontanen Reaktionen eines Live-Tickers, den Meier als Paradebeispiel anführt), die »Lügenpresse« (ein Begriff, mit dem Meier auf Facebook ständig kokettiert) orientiert sich an dem, was sie »Relevanz« nennt: Gemeint ist aber nur eine der unzähligen Darstellungen der Realität, die dann manipulativ verzerrt und gestärkt wird.
Meier ersetzt Relevanz durch Viralität (oder vielleicht eher Resonanz): Entscheidend ist, ob das »Zielpublikum« davon Kenntnis hat, dass es mit journalistischen Produkten bedient worden ist. Dann werden Beiträge gelesen. So entsteht denn letztlich auch die Bedeutung des Community Managements: Erstens in der Gestaltung der Verbreitung, zweitens in der Kuration der Beiträge des Lesenden, die eigentlich selbst Journalistinnen und Journalisten sind, wenn man Meiers Ideen konsequent folgt (weil es ja eben nur subjektive Meinungen gibt und jede und jeder eine solche hat). Alles ist Reaktion auf Einflüsse.
Meier leitet daraus auch sein bekanntes Plädoyer für Native Ads ab: Weil Journalistinnen und Journalisten schon immer massiv beeinflusst worden seien, diese Manipulationen aber entweder systemintern rechtfertigt oder versteckt werden konnten, seien transparente Einflüsse in Form von Native Ads das Rezept gegen die Glaubwürdigkeitskrise im Journalismus.
Alles ist subjektiv, nichts professionell. Überall sind Einflüsse, Haltungen und Manipulationen; Wahrheit, Lernfähigkeit oder Objektivität sind keine Leitideen, sondern lediglich Chimären. Niemand liest journalistische Texte wirklich, es geht nur darum, sie in seinen Netzen zu teilen und Resonanz zu erzeugen – so sehe ich Meiers Position.
Ich halte dagegen. Ja, die Wahrheit bleibt uns oft verborgen, sie leuchtet nicht zwischen den Buchstaben in den Zeitungen auf, ist nicht mit Rezepten zu erlangen und scheint zu oft mit Aussagen gepackt zu sein, die sie haarscharf verfehlen. Entscheidend ist die Absicht: Wer sich bemüht, die Wahrheit zu finden und zu sagen, handelt anders als die, welchen sie gleichgültig ist – und noch mal anders als die, welche bewusst etwas davon Abweichendes sagen, um andere zu täuschen. Diese Personen korrigieren sich nämlich, wenn sie einen Fehler gemacht haben.
Das ist keine moralische Kategorisierung, sondern eine analytische. Meier ist Apologet des Bullshit – ihm ist wichtiger, ob Inhalte etwas auslösen, als ob sie wahr sind. Der einfache Test ist die Native Ad: Ihre ehrliche Form ist der Produktetest. Er führt sie ad absurdum, weil sie verlangen würde, dass Journalistinnen und Journalisten klar sagen, was sie von den Produkten einer Firma halten.
Wenn Journalistinnen und Journalisten lügen, genügen sie eigenen Vorgaben nicht. Genau so, wie wenn sie Bullshit verbreiten, also Informationen, deren Wahrheitsgehalt ihnen egal ist. Ja, die ethischen Ansprüche an die journalistische Arbeit werden in der Praxis zuweilen nicht eingelöst, genau so, wie das in der Medizin oder in der Pädagogik der Fall ist. Entscheidend ist: Besteht die Möglichkeit zum Widerspruch? Werden verschiedene Weltsichten mit der Absicht der Klärung enggeführt oder resultiert ein Meinungspanorama, das nur dazu gut ist, alle möglichen Nischen zu bedienen, unabhängig davon, was der Realität entspricht?
(Zuweilen höre ich den Podcast von Ian Rapaport, einem unbekannten amerikanischen Schauspieler im Dunstkreis von Howard Sterne. Er hat sich vorgenommen, keine Aussage zu überprüfen: »We don’t factcheck« ist sein Motto. Die Frage wäre: Wollen wir solchen »Journalismus«, für den Fakten nichts als subjektive Meinungen sind? Und würde der nicht zwangsläufig zu Rapaports Podcast, der statt richtig laut, statt argumentativ frech ist?)
Mit dem Bekenntnis zur Wahrheit verbunden ist das Verlangen nach Relevanz. Relevant ist die Information, die meine ungenauen oder falschen Meinungen hinterfragt und präzisiert, von der ich etwas lernen kann. Von den Ressorts der Massenmedien habe ich mich längst verabschiedet. Oft vertiefe ich mich in Wikipedia-Reisen in Themenwelten, die mir bisher fremd waren. Daher liegt es mir fremd, wirtschaftliches oder historisches Wissen höher zu werten als anderes. Aber es stimmt für mich nicht, wenn Content-Schaffende wie Meier behaupten, Relevanz sei Resonanz.
Während den verschiedenen Phasen von Gesellschaftsmodellen gibt es einen unterschiedlich hohen Grad an Komplexität auf allen Ebenen, seien diese Ebenen mikro-, meso- oder makrosoziologisch. Das Komplexitätsniveau der Weltgesellschaft und der meisten Subgesellschaften auf dem Globus ist gegenwärtig sehr hoch, in gewissen «Themengebieten» sind die Zustände sogar chaotisch. Zu einer Zeit wie der heutigen ist es einfach und naheliegend die Subjektivität als einzig relevante Grösse und als Killerargument zu lancieren. Philipp Meiers Argumentationslinie ist zur Zeit einsichtig, aber sie ist nicht zeitlos richtig.
Im Vergleich zu den Neunzigerjahren und anderen Phasen ist die Spannung und sind die Bewegungen in den Zentrumsgesellschaften des Westens deutlich höher. Manche behaupten sogar, unsere Demokratien, unsere Ökonomien und sogar das Konzept «Nationalstaat» seien am schwanken. Weil der Westen die Weltgesellschaft hegemonial anführt, schwanken alle übrigen sozial und ökonomisch verflochtenen Gesellschaften mit, so dass überall auf der Erde soziale und wirtschaftliche Überraschungen geschehen, die nicht einmal mit sozialwissenschaftlichen Methoden und schon gar nicht journalistisch und zeitnah geschildert und erklärt werden können. Viele Dinge, die jetzt geschehen, werden erst in ein paar Jahren erklärt werden können.
Was hat das mit den Kategorien «Lügenpresse» und «Relevanz» zu tun? Wenn die Organe des Journalismus dazu stehen würden, dass sie die «Welt» da und dort und hier und dort selber auch nicht mehr verstünden und somit auch keine Erklärungen, Deutungen und Handlungsvorschläge liefern können, würde dem Vorwurf der Lügenpresse der Wind aus den Segeln genommen. Wenn die Presse und die Öffentlichrechtlichen zugeben könnten, dass es für sie momentan so gut wie unmöglich sei, die Relevanz von Ereignissen zu beurteilen, weil die Recherchierenden und Berichtenden selber mit einer Informationsflut einerseits und mit chaostheoretischen Flügelschlägen von Schmetterlingen andererseits konfrontiert würden, dann könnte das Publikum nicht mehr behaupten, es werde gelogen. Dadurch würden die Medienschaffenden zwar «ehrlicher» aber sie würden sich selbst zur Zunft der Kunstschaffenden morphen, denn die Beiträge würden sich den Kategorien «wahr» und «falsch» entziehen.
Die Vierte Gewalt ist keine Kunstszene, sondern sie ist der Aufklärung verpflichtet. Anstatt zuzugeben «wir wissen ebensowenig wie ihr, was da gerade abgeht» und mit diesem Rückzug den objektiven Platz ausserhalb des zu erklärenden Systems zu behalten, verirren sich während überkomplexen Zeiten alle, das heisst auch diejenigen Organe und Journalistinnen und Journalisten, die in ruhigen Zeiten immer sachlich und objektiv berichten, automatisch im ideologischen Sumpf.
Meine Meinung nach ist der «Rückzug» von Philipp Meier in die offen deklarierte Subjektivität in der heutigen Zeit ein ehrlicher und ehrwürdiger Akt. Als Journi, der sich auch als Kunst- und Kulturschaffender wohl fühlt, hat er die Coolness, diesen Schritt zu vollziehen. Berufsmenschen, die immer «nur» Journalisten waren, werden ihm sicher nicht folgen.
Ein solcher Rückzug mag ehrlich und ehrwürdig sein, hat aber zur Folge dass ich an der Schreibe solcher Journalisten überhaupt nicht mehr interessiert bin!
die gefährlichsten aller journalisten sind diejenigen, die sich enorm bemühen, die wahrheit zu finden, und dabei ausblenden, dass sie von ihrem (immer beschränkten) wissen und ihrer subjektiven sicht auf die welt geleitet werden.