»Ein Tweet umfasst 140 Zeichen«, schrieb ich über die Feiertage in einem fachdidaktischen Aufsatz, der momentan im Review steckt. Den Satz werde ich rausnehmen müssen – Twitter wird die Zeichenlimite entfernen. Damit rechne ich schon seit längerem, nun wird es umgesetzt.
Beschränkungen fördern Kreativität und Präzision. Ich schreibe viel und bin überzeugt, dass Twitter meinen Stil stark geprägt hat. Die Ausrede, ein Thema könne wegen der Zeichenbeschränkung nicht via Twitter diskutiert werden, hat mich immer gestört – zumal längere Texte ja problemlos verlinkt werden können.
Gleichwohl mag ich in den Jammerchor, der aus der Twittergemeinde ertönt, nicht einfallen. Die Befürchtung, Twitter verliere seinen Charakter, teile ich nicht. Es gibt nicht ein Twitter mit einem festen Charakter, sondern unterschiedlichsten Twitterdialekte. Mein Twitterstream besteht aus unterschiedlichen Diskurssträngen, die ich verbinden oder trennen, konsumieren oder produzieren kann. Die Normen, die sie beherrschen, werden nicht durch eine technische Veränderung obsolet. Kurz: Twitter ist primär ein soziales Netzwerk, dessen Leistung nicht von einer Beschränkung abhängig ist.
Die konservative Haltung der Twitter-Elite ist grundsätzlich amüsant: Da sind die unter sich, welche die Sehnsucht nach der »digitalen Disruption« vereint – und wenn ihre Kommunikationsplattform eine Änderung einführt, sehen sie ihre Existenz bedroht.
Produktiver ist es – wie so oft – nach den Gründen zu fragen. Jack Dorsey begründet die Änderung mit der Praxis vieler (auch jüngerer User), längere Texte als Screenshots zu verschicken. Diese können von den Algorithmen weniger gut verarbeitet und durchsucht werden, was einige Funktionalitäten beeinträchtigt. Die Veränderung ist als Reaktion auf das Bedürfnis vieler User, auch längere Texte teilen zu können, nachvollziehbar.
Letztlich dürfte das aber nicht den Ausschlag gegeben haben. Facebook entwickelt sich immer stärker zu einer Publikationsplattform, mit der Redaktionen ihr Publikum erreichen. Zeitungsartikel werden direkt innerhalb von Facebook veröffentlicht – nicht nur deshalb, weil die User dann mehr Zeit im geschlossenen FB-Netz verbringen, sondern auch deshalb, weil Medien so zu FB-Kunden werden, die für die Reichweite mittelfristig bezahlen sollen. Dieses Kundensegment kann Twitter nicht kampflos abgeben und muss so Wege suchen, um ebenfalls im Netzwerk selbst eine ganze Palette von multimedialen Inhalten (Umfragen, Videos, formatierten Text etc.) abbilden zu können.
Für mich als Nutzer wird entscheidend sein, wie gut ich filtern kann. Wenn längere Texte ähnlich wie bei Facebook erst auf Knopfdruck erscheinen, habe ich damit kein Problem und kann mir auch einen echten Mehrwert vorstellen, wenn ich für längere Texte nicht einen Link klicken muss. Andererseits werde ich mehr Selbstdisziplin aufwenden müssen, um prägnante Texte zu schreiben. Letztlich ist mir aber klar, dass ich den Maßnahmen dieser Plattformen, die ich seit Jahren kostenlos nutze, ausgeliefert bin.
Ich empfinde es als Vorteil, wenn längerer Content nicht auf Twitter selber erscheint. Twitter ist für mich kurzer Zeitvertreib, wenn ich mal ein paar Minuten Zeit habe. Dazu scrolle ich recht schnell durch die Timeline.
Längere Texte, die mich interessieren, öffne ich in einem anderen Tab und lese ihn wenn ich etwas mehr Zeit habe.
Auch diesen Text habe ich zu einem späteren Zeitpunkt gelesen, als er in meinem Feed auftauchte. Es kann gut sein, dass ich ihn nicht gelesen hätte, wäre er direkt in der Timeline geschrieben worden.
Und da liegt doch der Hund eigentlich begraben: Für die Nutzer macht es wohl keinen großen Unterschied, ob sie auf einen Link klicken müssen oder auf einen „weiter“-Button. Für Twitter hingegen bedeutet es, dass sie jetzt den ganzen Content selbst hosten wollen. Das Stichwort „walled garden“ vermisse ich deshalb etwas.