Kommen in medienpädagogischen Diskussionen historische Praktiken vor, dann meist im negativen Sinne: Es wird darauf verwiesen, dass es Kritik an der Mediennutzung oder damit verbundene Probleme schon ganz lange gibt. Das ist ein starkes Argument gegen Kulturpessimismus. Noch stärker scheint es mir aber, wenn gezeigt werden kann, dass bestimmte Kommunikationsformen auch im positiven Sinne eine lange Geschichte haben. Wie Wilhelm von Humboldt und seine Frau Caroline Gruppenbriefwechsel genutzt haben, weist deutliche Parallelen zur Verwendung von Social Media auf.
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Caroline von Humboldt (geborene von Dacheröden) und Wilhelm von Humboldt haben zwischen 1788 und 1929 über 1000 bis heute erhaltene Briefe geschrieben. Das Ehepaar lernte sich in einem so genannten »Tugendbund« kennen, in dem neben ihnen ein weiterer Mann sowie fünf weitere Frauen Mitglied waren – alle in den 1760er-Jahren geboren. Sie alle kannten sich nicht persönlich, sondern nur über ihre Korrespondenz.
Martina Wernli schreibt in einem wissenschaftlichen Aufsatz über den Briefwechsel des Tugendbundes:
Briefe wurden etwa innerhalb von Briefen mittels Zitaten wiedergegeben, es zirkulierten Abschriften, sogar ganze Briefsammlungen Dritter wurden mit eigenen Briefen mitgeschickt. (S. 295)
Im »Gruppenbriefwechsel« entwickelte sich ein eigener, empfindsamer Stil, es wurden Normen und Aufnahme- bzw. Ausschlusskriterien diskutiert. Neben der Halb-Öffentlichkeit der vom ganzen Tugendbund gelesenen Briefe gab es auch die Möglichkeit eines intimen, privaten Briefwechsels – ganz analog zu den Profilen sozialer Netzwerke, die für eine Gruppe einsehbar sind, während im Hintergrund private Nachrichten eine persönlichere Kommunikation ermöglichen.
Schreiben sich Humboldt und Dacheröden private Briefe, entwickeln sie einen Code, der die Briefe gegen die Lektüre Nicht-Eingeweihter schützt. Ihre Briefsprache wird zu einem Gesprächsersatz: »Ich kann nicht sein, ohne mit Dir zu reden«, schreibt Wilhelm von Humboldt im Juni 1790 – und meint damit das Schreiben von Briefen. Die konzeptuelle Mündlichkeit von Social-Media-Praktiken – Jugendliche sprechen davon, »miteinander zu schreiben« – findet hier also einen Vorläufer.
Die am Tugendbund Beteiligten schreiben nicht nur Briefe, sie kommentieren auch erhaltene (die sie dann weiterleiten oder ausgiebig zitieren, also teilen) und entwerfen gemeinsam neue, wichtige Briefe. Gleichzeitig stehen sie – so schreibt Wernli – in einem Zwiespalt zwischen einem »maskenhaften Rollenspiel« (S. 302) mit erschriebenen Identitäten innerhalb des Briefzirkels und der »existenziellen Bedeutung (S. 303) der Briefe.
Zum Schluss geht Wernli auf die Rollenbilder ein – die in den Brief Stereotypien folgen, obwohl gerade der Briefwechsel zwischen Wilhelm und Caroline von Humboldt bis heute als Musterbeispiel des Gesprächs unter gleichberechtigten Kommunikationsteilnehmenden gilt. Gleichwohl hat Wilhelm gegenüber seiner Urenkelin bestimmt, der Briefwechsel solle weitervererbt werden, er müsse jedoch »immer in weibliche Hände kommen« (Vorwort zur ersten Auflage des Briefwechsels, geschrieben von Anna von Sydow).
Ist der Mensch noch ganz jung, wird später alles besser sein. Ist er in der Blühte seines Lebens, ist’s gut wie’s ist – und wird er alt, war früher eh alles besser.