Privatsphäre: Ein Grundrecht?

Gestern habe ich an der FH St. Gallen die zugespitzte Position eingenommen, Privatsphärenprobleme werden überbewertet, weil sie erstens den Blick weg von politischen Problemen lösen, die via Privatsphärendiskussion an Individuen ausgelagert werden, und weil sie zweitens von falschen Vorstellungen ausgehen: Daten entstehen gesellschaftlich und gehören nicht Individuen, Privatsphäre ist kein Recht, sondern ein Privileg.

Darauf gab es vor allem via Facebook Kritik an meiner Position, auf die ich kurz eingehen möchte. Zusammenfassend kann man die Kritik in zwei Hauptaspekte aufteilen: Einen existenziellen und einen rechtlichen.

Der Reihe nach:

Privatsphäre als existenzielle Notwendigkeit

In einem WoZ-Interview formulierte Juli Zeh diesen Gedankengang wie folgt:

Entwicklungsbiografisch beginnt der Mensch, sich in dem Moment als eigenes Subjekt, als in sich geschlossenes, abgegrenztes Wesen zu betrachten, zu dem er «Ich» sagt, wenn er es schafft, Geheimnisse zu haben. Also wenn das Kind anfängt, Dinge zu verstecken, wenn es den Eltern den Zutritt zu bestimmten Räumen verwehrt, wenn es Grenzen zieht: Wer darf was wissen? Sobald man sagen kann: «Das dürft ihr nicht wissen, das ist meins», wird man ein «Ich».

Meine Forderung, gesellschaftliche Probleme auf einer politischen Ebene zu lösen, statt den Blick auf Scheinprobleme im Umgang mit der Privatsphäre zu lösen, betrifft meiner Meinung nach diese Ebene gar nicht. Auch im Zeitalter der Digitalisierung entsteht nie die totale Transparenz: Wer viele Informationen über sich veröffentlicht, schafft Raum für neue Lücken. Gerade Jugendliche, die Social Media aktiv nutzen, haben ein sehr starkes Bewusstsein für Informationsflüsse. Es ist ihnen bewusst, wer was (nicht) sehen kann, was publiziert wird und was nicht. Ein lockerer Umgang mit Privatsphärenproblemen ist nicht gleichzusetzen mit totalitärer Kontrolle. Wer Google seine Bewegungsprofile übermittelt, bejaht damit weder eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit noch eine lückenlose Überwachung. Sondern schafft vielleicht ganz bewusst auch Fenster, in denen das Handy nicht dabei ist und niemand weiß, wo man sich befindet.

Privatsphäre als Recht

 

Privatsphäre ist ein Grund- und Menschenrecht.

1 Jede Person hat Anspruch auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihres Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs.
2 Jede Person hat Anspruch auf Schutz vor Missbrauch ihrer persönlichen Daten.
(Art. 13 BV)

Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Beruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Anschläge.
(Art. 12 AEM)

Die Realität steht im Widerspruch dazu. In der Schweiz ist niemand ohne genügend Geld, Einfluss oder Rechtsschutz davor geschützt, Opfer einer üblen Pressekampagne zu werden. Kommunikationsflüsse werden von Unternehmen und staatlichen Organen überwacht. Massen-DNA-Tests sind legal. Die Aufzählung könnte weitergehen, das Fazit bliebe gleich: Das Grundrecht ist theoretischer Natur. Es wird im Moment weder staatlich noch wirtschaftlich geschützt.

Meine Haltung ist nicht, dass wir dieses Grundrecht aufgeben sollten. Sondern wie stark wir seinen Schutz einfordern sollen, wenn klar ist, dass mittelfristig undenkbar ist, dass massive Verstöße gegen dieses Grundrecht verhindert werden können. Meine Position rechtfertigt keine Verstöße, sondern fragt pragmatisch danach, wie die Gesellschaft und Individuen ganz allgemein besser geschützt werden können. Meiner Meinung nach nicht, indem Individuen aufgefordert werden, wirkungslose Dienste zu abonnieren, Strategien zu entwickeln oder ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie Google oder FB verwenden.

Society6
Quelle: Society6

2 Kommentare

  1. patrickseemann sagt:

    Wie schon auf Facebook andiskutiert, halte ich die Argumentation für falsch. In der Schweiz ist auch niemand davor geschützt, auf dem Fussgängerstreifen durch ein Auto oder einen Lastwagen an- oder überfahren zu werden und im schlimmsten Fall sogar ums Leben zu kommen. Das hindert uns (zurecht!) nicht daran, Fussgängern auf dem Fussgängerstreifen Vortritt zu gewähren, inklusive der damit verbundenen Bussen/Strafen für Autofahrer welche sich nicht daran halten.

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