»There Will Be Blood« – kurze Kritik des Nerdcore-Essays

Der bekannte Nerd-Blogger René Walter hat einen großen Essay zu Wut im Internet publiziert. Er greift dabei auf Debatten zurück, die längst viel differenzierter geführt worden sind – und ignoriert damit wesentliche Beiträge von Expertinnen zu Themen wie »Hate Speech« und Gamergate. Yasmina Banaszczuk fasst diese Kritik wie folgt zusammen:

[Walters] Pseudodifferenzierung führt zur Gleichsetzung von Hate Mobs und den Reaktionenen Betroffener.
[Darüber hinaus] ist die Unsichtbarkeit der Expertinnen, die seit mehreren Jahren darüber schreiben, [ein Problem des Textes].

Im Folgenden führe ich meine Kurzkritik, die ich auf Twitter publiziert habe, auf Wunsch aus. Ich werde dabei keine ausführliche Diskussion der beiden oben genannten Debatten aufgreifen: Dazu wurde das Wesentliche schon von kompetenteren Leuten gesagt. Ich beschränke mich auf die Argumentation und Form von Walters Essay. (Die Einleitung habe ich in einem Update eingefügt.)

»Im Underground zählt einzig und allein die ästhetische Qualität«, sagte Walter vor Jahren in einem Interview. Zum Underground rechnet er seine Arbeit dazu. Diese ästhetische Qualität geht seinem Essay ab. Hauptsächlich aus drei Gründen: Der Text ist erstens zu lang für seinen argumentativen Gehalt. Dadurch verlieren die präsentierten Zusammenhänge an Klarheit. Das mag eine bewusste Strategie sein, ist aber ein ästhetisches Problem.

Zweitens verunmöglicht die grafische Gestaltung eine konzentrierte Lektüre. Illustrationen erhalten eine Eigendynamik, sie sind keine Ergänzung des Textes, sondern führen von ihm weg. Ein Beispiel: Das sehe ich, wenn ich den Text in meinem Browser lese.

Bildschirmfoto 2015-07-02 um 09.57.20

Drittens wählt Walter eine Sprache, die Netzjargon, Umgangssprache, Verlinkungsreferenzen und Neologismen so verbindet, dass die mit ihr transportierten Argumente dahinter verschwinden. Betrachten wir einen Auszug:

Ich sehe immer mehr Artikel zu Wut und Trollen, Online-Harassment und virtueller Gewalt an jeder Ecke. Wir reden immer lauter über Emotionen im Netz, wie sie darin geformt und übersteuert werden, über Empathie und wie sie in einer digitalen Welt funktionieren kann. Die Diskussion ist längst in Deutschland angekommen, spätestens mit dem Drama um die provokativen Texten von Frau Von Rönne in der Welt oder der Diskussion um das Münkler Watchblog. Websites und Mainstream-Medien leiden schon lange unter dem immer emotionalerem und ausfallenderem Diskussionsverhalten und sogar der neue Pixar-Film handelt von den Gefühlen von Gefühlen. Das Thema ist überall.

For fucks sake: Das Magazin, in das ich die erste Version dieses Textes geschrieben habe, trägt den Untertitel „Liebe & Hass – Wer spielen will muss fühlen“! Und nun sind wir eben an dem Punkt angekommen, an dem sich das Thema nicht mehr länger weg-schulterzucken lässt.

¯\_(ツ)_/¯ is not an Option anymore. What the hell, it never was.

Die drei Abschnitte zwei Behauptungen: Wut und Emotionalität würden intensiver thematisiert (und auch in Deutschland). Deshalb sei eine Diskussion darüber alternativlos geworden. Damit vermischt sind Beispiele: Münkler-Watchblog, die Rönne-Debatte, Pixar-Filme. Ist ihnen – und damit gehe ich nahtlos zur inhaltlichen Kritik des Essays über – etwas gemeinsam? Zeigen sie Wut oder Emotionen in einem exemplarischen Sinne? Sind Wut und Emotionen (und Empathie) dasselbe oder müssen wir sie unterscheiden?

Solchen Fragen und der damit verbundenen Begriffs- und Argumentationsarbeit weicht der Text trotz seiner Länge aus. Er funktioniert im besten Fall assoziativ: Fundstücke und Bruchstücke von Gedanken werden in eine Beziehung gesetzt, die selbst nicht erklärt wird.

Ein weiteres Beispiel dafür ist der folgende Absatz, der auf ein Bild verweist:

Exakt das sieht man in diesem bekannten Graph, der einen Schnappschuss der Gamergate-Debatte in einer Netzwerk-Visualisierung zeigt. Ich verwette meinen Arsch darauf, dass graphische Abbildungen angrenzender Debatten exakt genauso aussehen. Das hier und die tausenden Gamergate-Screenshots sind, mehr oder weniger, eine neue Form der Kriegs-Fotografie:

Bildschirmfoto 2015-07-02 um 10.11.38

Um ehrlich zu sein: Ich sehe nichts in diesem Bild, was ich als »exakt« bezeichnen würde. Dafür müsste ich über die Methodik, die Visualisierungsform, die Datengrundlage etc. aufgeklärt werden. Zudem kann ich nicht beurteilen, wie gehaltvoll Aussagen sind, auf die Walter seinen Arsch verwettet.

Die Vermutung, dass in Debatten eine Polarisierung entsteht, ist letztlich so trivial und nichtssagend wie die Behauptung, die Diskussionskultur sei online eine viel radikalere als – Achtung, Jargon! – im »Meatspace«. Da entwickelt René Walter einen reaktionären digitalen Dualismus, der wenig bringt. Als ob es offline keine polarisierenden Debatten gäbe.

Letztlich verliert sich der Essay in der Forderung, es bräuchte halt einmal mehr Empathie (am besten mit technologischen Lösungen) und gleichzeitig doch viel Polemik:

Natürlich geht das meistens schief und dann muss man eben die Rechnung zahlen, aber das ist eben die andere Seite: Derbe, möglicherweise auch zunächst schmerzhafte Provokationen können Grenzen verschieben, neue Dinge ermöglichen und Horizonte erweitern. Deshalb nochmal: „It’s extremely important to be able to be nasty to each other for society.“

So haben am Schluss alle Recht, nur die anderen nicht: Die Gamer haben bei Gamergate recht, weil es doch um journalistische Ethik geht, die Feministinnen haben auch recht, aber nur, wenn sie nicht wirklich radikal sind. Der Text ist eine gebastelte Apologie für die eigene Position: »Seht mal, ich habe ein paar Studien, Memes und Youtube-Videos gefunden, die sagen, dass ich so weitermachen kann wie bisher. Aber meine Privilegien habe ich total gecheckt.«

Walter agiert wie der von ihm zitierte »Let’s Player«, der bemerkt, dass er im Videospiel GTA V nicht nur eine schwarze Frau getötet hat, sondern auch den Moment wahrnehmen konnte, in dem sie gestorben ist. »Shit, now I feel bad«, sagt er, um dann den Moment mit einer Horrorästhetik ironisch zu unterlaufen. Seine Einsicht bleibt ohne Konsequenzen. Zu denken, bessere Visualisierungen von Todesszenen würden zu einer Kultur der Empathie (mit Spielfiguren?) führen, ist entweder ein apolitisches Spiel mit dem Leser oder blanker Zynismus.

* * *

Dann noch ein Buchtipp:

(Da gibt’s ein fantastisches Buch über die Geschichte der Raumwahrnehmung, von der Antike bis Virtual Reality, fast schon Umberto-Eco-Level of Analysis, habe ich hier schon öfter erwähnt. Leider habe ich das Buch nicht mehr und ich komm um’s Verrecken nicht mehr auf den Namen. Auch das habe ich hier schon öfter erwähnt. Hrmpf.)

4 Kommentare

  1. Pingback: Empathie | H I E R

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