Big Data in der Bildung

Am 6. Mai diskutiere ich mit einer spannenden Runde im Zentrum Karl der Grosse in Zürich über die Herausforderungen der Digitalisierung. Als Vorbereitung habe ich mich mit der Rolle von Big Data in der Bildung auseinandergesetzt. 

Das Bild zeigt kein Callcenter, sondern eine Charter School in Indianapolis. Das Versprechen der »Carpe Diem«-Schools ist einfach: Sie nutzen personalisierte digitale Lernsysteme, um Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern. Dabei erzielen sie scheinbar beachtliche Resultate: Nicht nur in Bezug auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler, sondern auch in Bezug auf die in den USA entscheidende Kosteneffizienz – trotz der fortschrittlichen IT sind die Schulen günstiger als andere High Schools, weil sie viel weniger Lehrpersonal brauchen.

Carpe Diem Schule in Indianapolis, Jessica Ebelhar
Carpe-Diem-Schule in Indianapolis, Bild Jessica Ebelhar

Nicht unerwartet ist um diese Schule eine Kontroverse entbrannt: Peg Tyre weist darauf hin, dass das Problem des US-amerikanischen Bildungssystems darin liegt, dass zu wenig gute Lehrerinnen und Lehrer ausgebildet werden, Danah Boyd ergänzt den Beitrag mit der Feststellung, dass technologiegestützte personalisierte Bildung im schlechten Fall dazu führt, dass Schülerinnen und Schüler zu Robotern ausgebildet werden. Diese könnten zwar für die Wartung automatisierter Systeme in der Industrie gut gebraucht werden, würden dabei aber all diese Bildungsaspekte verpassen, die mündige Mitglieder einer aufgeklärten Gesellschaft mitbringen sollten.

Big Data in der Bildung resultiert in der Unterrichtspraxis in personalisierten Lernumgebungen. Darunter muss man sich im idealen Fall eine Aufgabenstellung vorstellen, die auf die Lernerfahrungen und Kompetenzen jedes und jeder einzelnen Lernenden abgestimmt ist. Bei der Bearbeitung werden zusätzliche Daten erhoben, die für die Generierung weiterer Lernumgebungen genutzt werden. Würden Lernende so mit einem schlauen Tool das Zehnfingersystem lernen, würden gezielt motorische Bereiche trainiert, bei denen Schwächen vorhanden sind – aber immer in einem Schwierigkeitsgrad, der zu Erfolgserlebnissen führt, aber gleichzeitig eine Herausforderung darstellt. Im besten Fall bemerkte das Tool dann auch Stärken oder Schwächen beim Entziffern von Wörtern und könnte eine weitere Leseübung darauf abstimmen.

Das Argument, menschliche Beziehungen seien für Lernprozesse entscheidend, möchte ich im Moment ausblenden – und einmal die Vorstellung prüfen, dass Algorithmen aufgrund von Daten in der Lage seien, optimale Lernaufgaben zu gestalten. Betrachtet man die Forschungsliteratur – ich beziehe mich besonders auf Rieder und Röhle sowie Mahrt und Scharkow – so stellen sich folgende Fragen:

  1. Ist es überhaupt sinnvoll, aus vielen Datensätzen von Lernenden Schlüsse über das Lernverhalten einer einzelnen Person abzuleiten?
  2. Können Computersysteme mit repräsentativen Stichproben arbeiten? Sind die Daten, die sie erfassen, für Lernprozesse wirklich entscheidend? Stammen die Daten aus einer genügend breiten Auswahl von Quellen? (Arbeiten z.B. westeuropäische Kinder mit Systemen, die in einem asiatischen oder nordamerikanischen  Kontext entwickelt wurden?)
  3. Stimmen die Kinder und ihre Eltern mit der Verwendung der Daten überein? Kann die Verwendung der Daten in einem ethisch vertretbaren Modell erfolgen?
  4. Auf welchen Modellen von Lernen basieren diese Systeme? Wie transparent sind ihre Annahmen in Bezug auf die Interpretation von Daten, auf die Validität von Messungen, die Vergleichbarkeit von Lernprozessen etc.?
  5. Können solche Tools mit wesentlichen Prinzipien wie der wirtschaftlichen Unabhängigkeit des Bildungssystems und der Lehrfreiheit vereinbart werden? Geben Schulen und die Bildungspolitik hier nicht plötzlich die Kontrolle über Prozesse an Unternehmen ab, die intransparent arbeiten und Investitionen verlangen, die zu einer langjährigen Abhängigkeit führen?

Ich bin neuen Methoden gegenüber aufgeschlossen und denke, dass individualisierte Computerlernsysteme großes Potential besitzen. Aber ich halte die Vorstellung für gefährlich, die Auswertung von Daten führe zu objektiven Erkenntnissen über Lernprozesse, welche Modelle und qualitative Forschung obsolet machen.

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