Immer wieder tauchen in Diskussionen Fragen rund um die Zürcher Lösung für den Übergang ins Gymnasium auf. Heute funktioniert der Übertritt ins Langzeitgymnasium wie folgt:
- Eine Prüfung in den Fächern Deutsch und Mathematik entscheidet über die provisorische Aufnahme. Im ganzen Kanton bestehen 16% aller Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs die Prüfung, die Bezirke variieren zwischen 8% und 20%.
- Eine mehrstufige Probezeit im ersten Semester, die wiederum mit einer starken Selektion verbunden ist. (Genaue Prozentzahlen sind meines Wissens nicht verfügbar, dürften aber zwischen 10% und 25% liegen.)
Dieses System ist – so meine Meinung – »broken beyond repair«. Die Gründe:
- high stakes testing, also Prüfungen, deren Ergebnis mit direkten Konsequenzen für die Lernenden verbunden ist, funktioniert als Verfahren nicht. Es führt zu Teaching to the Test, Stress und Fehlanreizen. Gleichzeitig kann das Verfahren nicht die entscheidenden Kompetenzen messen.
- Die Selektion beansprucht die Schülerinnen und Schüler von der fünften bis in die siebte Klasse – also rund zwei Jahre lang. Viele scheitern, alle am Prozess Beteiligten richten ihr Lernen nicht auf ihre Interessen, ihre Fähigkeiten oder auf ihre Umwelt aus, sondern auf das Selektionsziel.
- Die Probezeit verhindert einen motivierten, entspannten Einsteig am Langzeitgymnasium.
- Schulen müssen enorme Ressourcen in die Selektionsverfahren stecken, die bei der Begleitung von nachhaltigen Lernprozessen fehlen.
Eine Weile lang wurde zusätzlich ein Intelligenztest an der Prüfung durchgeführt. Er zeigte nicht, was die Verantwortlichen erhofft haben (wohl, dass die Prüfung zu einer Benachteiligung »bildungsferner Schichten« führe). In einem Kommentar sagte der Versuchsleiter, Urs Moser, »es sei sinnvoller, das Potenzial der Kinder früher zu erfassen.«
Diese Meinung schließe ich mich an. Ein faires und vernünftiges Verfahren muss folgende Kriterien erfüllen:
- Reduktion der Selektion auf einen zentralen Mechanismus.
- Berücksichtigung des Potentials, der Motivation, der Leistungen und der Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler.
- Gleiche Chancen für unterschiedliche Lern- und Bildungstypen; große Unabhängigkeit vom Wohnort, dem Elternhaus, den Lehrpersonen an der Primarschule etc.
Sinnvoll erscheint mir deshalb ein Assessment in der sechsten Klasse, das auf einem Lernportfolio aufbaut. In Spezialwochen werden die Interessierten zu allgemeinen Tests und einem Gespräch über das Lernportfolio eingeladen, auf deren Basis die Primarlehrperson zusammen mit einer Expertin oder einem Experten eine Empfehlung ausspricht, die direkt zur definitiven Aufnahme am Gymnasium führt.
Selbstverständlich ist das eine Bildungsutopie. Systeme sind träge und wer die Selektion durchlaufen hat, wird sie bewusst oder unbewusst für ein tauglicheres Mittel halten, als sie ist. Letztlich ist der Preis aber schlicht zu hoch: Der psychologische, der emotionale und der gesellschaftliche. Ein gesundes Bildungssystem braucht Scheitern nicht als zentralen Mechanismus.
Vielen dank für den tollen Artikel und die ausführliche Information. Stress entsteht leider immer dann wenn man es garnicht braucht.
Gruß Anna