»Meinungspornografie«: Vier Faktoren, die Kommentarkultur herbeiführen

Gestern wurde ich von Méline Sieber vom Regionaljournal Zürich Schaffhausen dazu befragt, was die Gründe dafür sind, dass im Netz eine unsägliche Kommentarkultur herrscht. Wüste Beschimpfungen und Drohungen sind an der Tagesordnung. Mitarbeitende von Newsportalen sind mit der Kommentarflut überfordert.

Es ist naheliegend, eine Verrohung der Sitten zu konstatieren. Schnell wird angeführt, früher, also zu Zeiten des Usenets oder des frühen Internets, habe eine »Netiquette« dafür gesorgt, dass Spielregeln eingehalten worden seien. Das Zerfallsnarrativ halte ich für irreführend (eigentlich immer – Zerfall entsteht nicht zufällig). Zielführender scheint es mir, vier Faktoren zu beschreiben, welche die Kommentarkultur beeinflussen. Dann wird deutlich, dass durchaus auch Interessen dahinter stecken, welche diesen Zustand mit finanziellen und politischen Mitteln herbeigeführt haben und für wünschenswert halten.

Das Phänomen bezeichne ich mit dem Begriff der »Meinungspornografie«. Wie jeder Vergleich ist auch dieser fehlerhaft, aber er zeigt drei Punkte auf, die mir relevant scheinen: Erstens macht gerade das Explizite die Faszination aus, die zweitens tabuisiert und versteckt wird. Drittens geht es um eine Inszenierung: Profis führen ein scheinbar natürliches Geschehen vor. Meinungspornografie1. Faktor: Psychologie

Aufmerksamkeit ist ein menschliches Bedürfnis. Mit Online-Kommentaren lassen sich spezifische Formen von Aufmerksamkeit generieren, gegenüber der schnell eine Toleranz aufgebaut wird: Wer darauf abfährt, braucht schneller härteren Stoff.

Dasselbe gilt für das Publikum: Es gewöhnt sich schnell an ein bestimmtes Level von Wut oder Aggression und ist fasziniert von Grenzüberschreitungen. Zivilisierte Gesellschaften wandeln Aggressionen in differenzierte Ersatzsysteme um: Die Kommentarschlacht ist eines davon. Es führt die mögliche Aggression und Wut vor, reduziert komplexe Probleme darauf.

Das funktioniert psychologisch auch deshalb, weil sich schnell Nischen bilden. Anders als am Mittagstisch sind alle in einer bestimmten Facebook-Gruppe gleicher Meinung. Um herauszuragen, braucht es extremere Positionen oder krassere Formulierungen. Und weil eine Reihe anderer bereits gezeigt hat, dass es akzeptabel ist, ausfällig zu werden, sind User bereit, einen Schritt weiterzugehen.

2. Faktor: Technologie

Social Media spielen sich heute auf Plattformen ab, hinter denen massive finanzielle Interessen stecken. Stark reduziert gibt es nur ein Ziel: User möglichst stark an Plattformen zu binden, deren Inhalte andere User erstellen. Meinungspornografie ist ein bewährtes Geschäftsmodell, das gezielt aufgebaut wird.

Dazu werden die Schwellen gesenkt. War das Usenet einer Elite vorbehalten, kann in Europa heute jede und jeder ins Netz. Und soll dort als identifizierbares Individuum agieren. Es bilden sich weniger geschlossene Interessensgruppen und Gemeinschaften, die bereit sind, einen Aufwand zu betreiben und eine konstruktive Diskussion zu ermöglichen. Diskussionen spielen sich auf scheinbar anonymen Plattformen ab, deren Vertreterinnen und Vertreter als Teil des Systems wahrgenommen werden, das nichts anderes zu tun hat, als die eigenen Interessen zu befriedigen.

Kurz: Social-Media-Anbieter agieren nicht neutral. Es entspricht ihrem Geschäftsmodell, intensive Diskussionen zuzulassen und Regeln kaum durchzusetzen. Ihre neoliberale Argumentation besagt, dass sich alle selbst vor Übergriffen schützen müssen.

3. Faktor: Massenmedien

Immer wieder beklagen sich Newsportale über die Belastung durch die Kommentarflut. Gleichzeitig ist auch ihre Währung Aufmerksamkeit: Was zählt, sind Klicks. Artikel, zu denen sich heftige Diskussionen ergeben, generieren diese Klicks. Es wäre leicht, bei heiklen Inhalten die Kommentarfunktion gar nie zu öffnen oder ein technisches System einzuführen, bei dem eine konstruktive Community belohnt wird: Nur ihre Beiträge wären direkt sichtbar, die der Kommentartrolle verschwänden direkt nach »unten« oder »hinten«. Aber Kommentare sind bestes Boulevard: Sie ermöglichen Kampagnen. Heute werden während jeder großen Geschichte auch die Diskussionen dazu zum Thema.

Extreme Meinungen werden so belohnt. Noch immer ist die Erwähnung in Massenmedien ein klares Zeichen von Relevanz. Werden Kommentare abgedruckt oder zitiert, adelt sie das.

Kurz: Massenmedien wollen »Meinungspornografie«, weil sie ihnen Aufmerksamkeit, Klicks und damit auch Einnahmen bringt.

4. Faktor: Politik und Gesellschaft

Die Themen, die hochkochen, wurden schon lange von politischen Akteuren warm gehalten. Die KESB, die Islamisierung, Geschlechterrollen etc. stehen auf der politischen Agenda – teils, weil bestimmte Interessenvertreter damit Veränderungen herbeiführen wollen, teils, weil sie von anderen Themen ablenken wollen.

Geschickt taktierende Politikerinnen und Politiker äußern die entsprechenden Kommentare nicht selbst. Sie distanzieren sich gar: Aber es entspricht genau ihren Zielen, dass sie so geäußert werden.

Die Kommentare entsprechen einem gesellschaftlichen Bedürfnis, Komplexität reduzieren zu können. Die Morddrohung gegenüber einer Person ist die reduzierteste Form der Schuldzuschreibung und der Übergabe von Verantwortung. Die symbolische Auslöschung einer Person entspricht dem Bedürfnis nach monokausalen Erklärungen.

Verbindung und Vernetzung

Die Faktoren lassen sich nie trennen. Politik schafft Rahmenbedingungen für Technologie und diese beeinflusst wiederum die Form der politischen Kommunikation – um nur ein Beispiel zu nennen.

Wer eine Verbesserung der Kommentarkultur anstrebt, muss alle vier Faktoren berücksichtigen. Es ist also naiv, wenn Newsportale denken, sie hätten die Möglichkeiten in der Hand, gesittete Diskussionen zu ermöglichen. Aber genauso naiv wäre es, wenn sich die Verantwortlichen einredeten, dass nur externe Faktoren zu diesem Zustand führen.

 

 

 

9 Kommentare

  1. Der Begriff der „Meinungspornografie“ gefällt mir sehr gut, weil er zwei Faktoren zusammenbringt: Zum einen geht es meistens in den Kommentaren nur noch um das Absondern von „Meinungen“, d. h. ungeprüfter, subjektiver Einschätzungen zu allen möglichen Themen. Ständig wird man gezwungen, eine „Meinung“ zu irgendetwas zu entwickeln, die sich natürlich schnell einstellt, aber oft genug keinerlei Wert hat (im angelsächsischen Raum heißt es ja auch vieldeutig: „mytwocents“). Der Rezipient hat häufig eine diffuse Idee von einem Thema, wird aber sofort zur Meinung aufgefordert, die er auch dann – im anonymen Raum – bereitwillig abgibt. Dabei gelten die Regelnd er Aufmerksamkeitsökonomie: Je abseitiger, pointierter, u. U. verletzender ein Kommentar ist, desto mehr Traffic wird damit durch Gegenkommentare generiert. Dabei kommt der zweite Teil des Begriffs „Meinungspornografie“ zum Vorschein: das Mitmachen der Medien bzw. Social Media Anbieter. Das wird ausführlich im Text dargestellt und das halte ich auch für richtig. Tatsächlich ergibt sich so eine Art Spirale der Banalitäten, die für die jeweilige Seite auch Vorteile enthält. Der „normale“ Leser folgt den Kommentaren (zumal wenn es viele sind) meistens nicht mehr.

    Ich glaube allerdings auch, dass die „Verrohung der Sitten“ kein neues Phänomen darstellt. Es wird nur heute alles publik, was früher an Wirtshaustischen (fast) unter Ausschluss der Öffentlichkeit behandelt wurde. Einige zarte Seelen in den Villenvierteln der Vorstädte, die solche Wirtshäuser nur aus der Erzählung kennen, reagieren dann natürlich geschockt.

  2. Ein wichtiges Thema, das durchaus mehr Bearbeitung verdient hätte. Es braucht deutlich mehr Reflexion. Noch immer nutzen zu viele Institutionen (Firmen, Medien, Organisationen etc.) Social Media nur um dort „präsent“ zu sein, aus Marketingüberlegungen, jeder macht mit, weil jeder mitmachen kann. So potenzieren sich die in ihrem Kern allesamt materiellen Gründe für die Nutzung der Social Media: Plattformen wollen User binden, User wollen Aufmerksamkeit um jeden Preis, Medien wollen Klicks und die Politiker Stimmen – und natürlich ihrerseits als User Aufmerksamkeit. Viele in den Social Media präsenten Institutionen und einflussreichen Personen sind sich ihrer Verantwortung nicht bewusst, die sie alleine deshalb tragen, weil sie eben mitmachen, sich in der Öffentlichkeit zu Wort melden (was manche gerne vergessen – das alles ist öffentlich!). Das bedeutet nicht, dass man alles regulieren, einschränken oder verbieten soll, aber die Hürden könnten ruhig wieder ein bisschen höher gesetzt werden, z.B. mit mehr Moderationen. Vor allem aber muss die Hemmschwelle wieder steigen, es ist gut, wenn wir Menschen Hemmungen haben – sagte schon Mani Matter. Wir sind einfach zu hemmungslos geworden, das ist das Problem.

  3. Dieses Unbehagen über den medialen Diskurs und die darin aktuelle spielende Rolle des Journalismus verspüre ich auch. Ich bin mir nicht sicher, inwieweit der Journalismus bzw. Journalisten da Getriebene sind oder treibende Kräfte bilden. Offensichtlich ist nur, dass eine differenzierende, abwägende und nicht eindeutig Stellung beziehende veröffentlichte Meinung in den Medien deutlich weniger Resonanz findet als ein klares Schwarz oder Weiß. Doch sicher war das schon immer so. Nur heute ist die Netztechnologie ein ungeheurer Verstärker unter Meinungsmachern, dem meines Erachtens eine wichtige zwischenmenschliche Eigenschaft fehlt: Empathie als milderndes Korrektiv in den Debatten von Mensch zu Mensch. Dafür zu sensibilisieren, habe ich kürzlich in einem Beitrag versucht: http://thomasbrasch.wordpress.com/2014/12/18/jetzt-kommt-mal-wieder-runter-und-zeigt-dass-das-netz-mehr-kann-als-hame-verbreiten/

  4. N_Wessinghage sagt:

    „Massenmedien wollen »Meinungspornografie«, weil sie ihnen Aufmerksamkeit, Klicks und damit auch Einnahmen bringt.“ – Das stimmt meiner Meinung nach nur bedingt. Ein Großteil der Medien erscheint mir eher angestrengt von der Flut der zum Teil unterirdischen Kommentare, und erste Medien wie die Süddeutsche haben ja auch schon abgeschaltet – bis auf ausgewählte Themen, die noch kommentiert werden können. Andere ziehen nach. Was viele davon abhält, die Kommentare bei heiklen Themen zu sperren, ist die wohl eher die Angst vor dem Vorwurf der Zensur, den sie sich damit einhandeln. Die negativen Kommentare bringen den Medien aus meiner Sicht eher weniger Aufmerksamkeit, vielmehr führen sie zu einer Abwertung der Kommentarkultur, weil immer weniger das Bedürfnis verspüren, sich in einem bestimmten Umfeld zu äußern. Es gibt darüber hinaus Untersuchungen, dass Kommentare, die die Netiquette verletzen, sich negativ auf die Wahrnehmung der Berichte selbst auswirken. Das kann nicht im Interesse der Medien liegen.

  5. Vielen Dank für einen weiteren sehr anregenden Artikel mit viel Tiefgang. Zwei Bemerkungen habe ich noch dazu:

    1. Das Usenet als Gelobtes Land der anständigen Diskussion zu bezeichnen, dem ein Verfall folgte, halte ich für euphemistisch Der Ton war in diesen Kreisen häufig nicht minder ruppig, und das gleiche gilt auch für die Szene, in der Disketten mit „Zines“ (häufig digitale Pendants zu Schülerzeitungen) herumgeschickt wurden. Da gab es hochstehende Auseinandersetzungen ebenso wie erbitterte Schlammschlachten, wobei die Szene natürlich noch viel überschaubarer und geschlossener war. Ich hier mit dir völlig einig, dass das Zerfallsnarrativ (auch) in diesem Kontext sachlich betrachtet nicht haltbar ist.
    Weiter konnten sich „Netiquetten“ meines Wissens auch unter „Eliten“ nie allgemein durchsetzen, waren stets umkämpft und wurden häufig ebenso emotional diskutiert wie die Themen, die sie eigentlich hätten disziplinieren sollen.

    2. So sehr mir dein Begriff „Meinungspornografie“ auf Anhieb gefiel, frage ich mich beim nochmaligen Nachdenken darüber, ob er nicht auch irreführend ist: Gerade weil heute offensichtlich alles pornographisiert wird (kürzlich fand ich auf Instagram den herrlichen Hashtag #cloudporn, der mich zum Schmunzeln brachte)verliert er an Schärfe. Hier täte eine etwas präzisere Begrifflichkeit meiner Meinung nach der Sache gut (auch wenn das einen Verlust an Aufmerksamkeitsträchtigkeit bedeuten würde). Oder habe ich den Begriff einfach nicht richtig verstanden?

  6. brueedi sagt:

    Ich weiss eigentlich gar nicht, von was ich schreibe, weil ich solche Kommentare weder lese noch schreibe, das heisst, mich gar nicht im Umfeld solcher Kommentare bewege.

    Besagte Kommentatoren schreiben da, wo möglichst viele andere auch schreiben. Sie „pissen da an die Hauswand“, wo’s möglichst einfach ist und wo’s alle tun. Oder: sie schmeissen da den Unrat aus dem Autofenster, wo’s andere auch tun. All diesen Handlungen ist gemein, dass sie schwellenlos sind. Es braucht absolut keine Bildung, keine Aus- und keine Weiterbildung, um solche Kommentare schreiben zu können.

  7. Find´ ich gut dass sich nochmal jemand mit dem Thema beschäftigt und sich auch traut die Kommentarfunktion offen zu lassen… 😉 Im Moment merk ich grade bei großen Tageszeitungen wieder, wie bescheuert und gemein die meisten Kommentare unter dem Artikel sind und sei er noch so belanglos. An manchen Tage steige ich wieder auf Papier um, einfach weil mich der shitstorm nervt. Grüße aus Köln Christin

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