Wer am Freitag- oder Samstagabend in S-Bahnen und an Bahnhöfen unterwegs ist, beobachtet einen seltsamen Stamm: Nach der letzte Mode frisierte, parfümierte, behandtaschte und gekleidet Jugendliche, die farbigen Vodka trinken und Ausschau halten nach freien Steckdosen, an denen sie ihre Handys aufladen können. Mit den geladenen Handys stehen sie permanent im Kontakt mit Abwesenden.
Laura de Weck hat das in ihrem Stück Lieblingsmenschen schon 2007 in Bezug auf die Verwendung von SMS unter Studierenden in der dritten Szene dargestellt:
JULE an LILI – 23:38 WoSeidIhr?BraucheDich!
JULE an LILI – 24:09 HeyWoSeidIhr??
LILI an JULE – 24:38 Im purpur ist nicht so cool-zuviele leute-musik kotz,kurs
JULE an LILI – 01:04 KommtDochHierherSvenIstSoLangweilig!!
LILI an JULE – 02:14 Sind aus dem purpur rausgeflogen,darius hat besitzer auf klo gesagt,er hätte kein stil u.Auf sein schwanz gezeigt…Gehen ins supermarket, kuss
JULE an LILI – 02:53 BinMitSvenImSupermarketFindEuchNicht!
Das hat viel mit den Orten zu tun, an denen sich Jugendliche aufhalten können und wollen. In ihren Kinderzimmern können sie sich nicht treffen, weil sie da den nötigen Freiraum nicht vorfinden; in ihren Agglomerationsgemeinden überwachen Sicherheitskräfte den Sportplatz – an beheizte Räume für Jugendliche ist nicht zu denken -, ähnlich eng wird es im öffentlichen Raum in der Stadt. Es bleiben die teuren Clubs mit engen Einlassbedingungen, der öffentliche Verkehr und die Vernetzung.
Social Media schaffen Räume, wie Danah Boyd festgestellt hat:
Öffentlichkeiten (engl. publics, Ph.W.) schaffen Räume und Gemeinschaften, in denen sich Menschen versammeln, verbinden und die Gesellschaft, wie wir sie verstehen, bilden können. Vernetzte Öffentlichkeiten gehören in zwei Hinsichten dazu: Sie bilden Räume und eine imaginäre Gemeinschaft. Sie werden durch Social Media und andere neue Technologien ermöglicht. Als Räume erlauben sie Menschen, sich zu treffen, Zeit zu verbringen und Witze zu reißen. Technologisch ermöglichte vernetzte Öffentlichkeiten funktionieren in dieser Hinsicht so wie Parks und Einkaufszentren es für frühere Generationen getan haben. Als soziale Konstrukte schaffen Social Media vernetzte Öffentlichkeiten, die Menschen erlauben, sich als Teil einer größeren Gemeinschaft zu sehen. Teenager verbinden sich mit vernetzten Öffentlichkeiten aus denselben Gründen, aus denen sie schon immer Teil einer Gemeinschaft sein wollten: Sie wollen zu einer größeren Welt gehören, indem sie andere Menschen treffen und sich frei bewegen können. (zitiert nach Generation »Social Media«, S. 23)
Statt von einem Ort zu sprechen, wäre es präziser auf Foucaults Begrifflichkeit der Heterotopie als Gegenort zurückzugreifen. Foucault führt sie mit einem anschaulichen Beispiel ein:
Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann. (Foucault (1967): Von anderen Räumen, S. 318).
Foucault notiert sechs Eigenschaften von Heterotopien:
- Heterotopien sind universal. Sie existieren in allen Kulturen.
- Heterotopien unterliegen Umdeutungen innerhalb einer Gesellschaft.
- An einem Ort sind mehrere in sich unvereinbare Platzierungen von Heterotopien möglich.
- Heterotopien sind häufig an Zeitsprünge gebunden (Heterochronien), Beispiele hierfür sind Museen, die »die Zeit speichern«.
- Heterotopien bestehen in einem System der Öffnungen und Schließungen, bspw. was die Zugehörigkeit und Zugänglichkeit der Heterotopie anbetrifft.
- Heterotopien haben eine Funktion gegenüber dem verbleibenden Raum inne. (leicht modifiziert von hier übernommen)
Wie Rymarczuk und Derksen jüngst in einem Paper notiert haben, erlaubt die Sichtweise der Heterotopie eine Reihe von Eigenschaften von sozialen Netzwerken klar zu erfassen. So halten die Autoren beispielsweise fest, wie die Transparenz, welche Social Media schaffen, gleichzeitig befreiend und einengend wirkt:
Users of social media, like actors on stage, know that they are being observed by an audience. Thus, the heterotopia of Facebook on the one hand opens up a new kind of space where selection, formulation and articulation of content is more readily available, but on the other hand the increased transparency puts added constraints on the performance and encourages questioning its authenticity. On the one hand, there are people who feel they can really be themselves on Facebook and experience it as a space where they finally come into their own. For example, Miller (2011) points out that to Facebook users on Trinidad, it is a place that allows one to show and share one’s true self, considered to be variable, and mood and situation dependent by Trinis. Facebook’s technical possibilities enable the user to present a constantly up–to–date representation of that changing self. However, Facebook’s features also offer both new possibilities for inauthenticity and for its detection. One’s holiday pictures with smiling people, good weather and great parties may draw ridicule from others who were there too and have pictures to prove it wasn’t all that great.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass insbesondere im zitierten Artikel einige implizite Annahmen stecken, allen voraus die von zwei Räumen: dem physischen und dem digitalen. Das zeigt sich insbesondere in der Rede vom «Cyberspace».
In den Sozialwissenschaften wird heute meist von einem relationalen Raumverständnis ausgegangen. Foucault selbst schreibt (1993):
«Heutzutage setzt sich die Lagerung [von Punkten, Elementen, Menschen] an die Stelle der Ausdehnung, die die Ortschaften ersetzt hatte. Wir sind in einer Epoche, in der sich uns der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen darbietet.»
Das Social Web ist damit sicher ein Ort, wo (Sozial-)Räume (nicht Orte) konstituiert werden, aber es gibt damit zugleich keinen Grund, diese von anderen (Sozial-)Räumen zu unterscheiden. Das Bild der Heterotopie macht, so wie ich ihn verstehe, aber genau das.
Danke für den Kommentar. Ich – und meiner Meinung auch die verlinkten Texte – verstehen Heterotopien nicht als Gegensätze oder Aufhebungen, sondern als Ergänzungen von Orten durch Nicht-Orte. Heterotopien sind unsichtbar, aber von Bedeutung für die sichtbaren Orte, weil dort Aus- und Einschlüsse passieren. Mich überzeugt am Begriff, dass er eben gerade nicht dualistisch funktioniert.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass insbesondere im zitierten Artikel einige implizite Annahmen stecken, allen voraus die von zwei Räumen: dem physischen und dem digitalen. Das zeigt sich insbesondere in der Rede vom «Cyberspace».
In den Sozialwissenschaften wird heute meist von einem relationalen Raumverständnis ausgegangen. Foucault selbst schreibt (1993):
«Heutzutage setzt sich die Lagerung [von Punkten, Elementen, Menschen] an die Stelle der Ausdehnung, die die Ortschaften ersetzt hatte. Wir sind in einer Epoche, in der sich uns der Raum in der Form von Lagerungsbeziehungen darbietet.»
Das Social Web ist damit sicher ein Ort, wo (Sozial-)Räume (nicht Orte) konstituiert werden, aber es gibt damit zugleich keinen Grund, diese von anderen (Sozial-)Räumen zu unterscheiden. Das Bild der Heterotopie macht, so wie ich den Begriff verstehe, aber genau das.
Interessanter Blickwinkel. Bin überzeugt, dass Social Media als Heterotopien bezeichnet werden können, aber ihre „Örtlichkeit“ fehlt. Das Beispiel „Spiegel“ halte ich für unpräzis, wenn Du die Utopie, die der Spiegel auch darstellt, verschweigst. Foucault nutzt den Spiegel um zu zeigen was Heterotopie ist, aber auch Utopie und er sei daher eine Mischung aus beidem. Eine „eigentliche“ Heterotopie (gemäss Foucault) ist der Spiegel deshalb nicht, weil das Spiegelbild keinen eigentlichen „Ort“ hat. Aber für Social Media könnte genau das wiederum der richtige Begriff sein: Social Media als Utopie und Heterotopie gleichzeitig, als Ort ohne Ort und als Gegenort. Als Utopie und als tatsächlich realisierte Utopie (was die Heterotopie ja ist). Und das Social Media eine Art „durchsichtiger Spiegel“ ist – liegt als Gedanke auch nahe.