Meinungsfreiheit scheint ein klar definierter Begriff zu sein, zumal er ein juristisches Konzept umreißt und ein Menschenrecht oder Grundrecht darstellt.
Er ist aber aus einem einfachen Grund mehrdeutig: Weil Freiheit selbst ein vielschichtiges Konzept ist. Die Freiheit, die Meinung zu äußern, wird juristisch als negative Freiheit gefasst: Der Staat darf seine Macht oder Gewalt nicht dafür einsetzen, Meinungen zu unterdrücken. Das kann man liberale Meinungsfreiheit nennen: Die Möglichkeit, seine Meinung zu äußern, darf durch keine Form von Zwang eingeschränkt werden.
An diese Diskussion anschließend wird oft auf ein Missverständnis hingewiesen: Nur weil der Staat niemanden daran hindern dürfe, seine oder ihre Meinung zu äußern, bedeute das nicht, dass das Private nicht dürften. Das Grundrecht impliziert nicht, dass man Leserbriefe schreiben dürfe, Kommentare im Netz nicht gelöscht werden dürften oder soziale Netzwerke missliebige Inhalte nicht löschen dürften, weil sie die Meinungsäußerungsfreiheit gar nicht einschränken könnten.
Ein soziales Verständnis von Meinungsfreiheit zeigt aber, warum es sich hier nicht um ein Missverständnis handle, sondern um ein anderes Verständnis von Freiheit. Freiheit bedeutet in diesem Sinne, dass Menschen über Möglichkeiten verfügen, etwas zu tun. Unabhängig von staatlichen Einschränkungen geht es um die Verfügbarkeit von Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten. Meinungsäußerungsfreiheit bedeutet in diesem Sinne, seine Meinung so äußern zu können, dass sie gehört wird.
Um diese Freiheit zu garantieren, reicht es nicht, dass der Staat auf Zensur verzichtet. Es geht nicht einmal um Verbote oder Gesetze, sondern um soziale Strukturen. Wer den geschwätzigen Nachbarn ausblendet und ihm nicht mehr zuhört, schränkt seine Meinungsäußerungsfreiheit im ersten, liberalen Sinne nicht ein. Im sozialen aber sehr wohl: Diese Person verliert jemanden, der ihr zuhört.
* * *

Bezogen auf soziale Netzwerke hat Hakan Tanriverdi für die deutsche Wired notiert, wie verloren das erste Verständnis von Meinungsfreiheit in Bezug auf das zweite oft ist:
Es ist diese Dauerkonversation, die Facebook, Reddit und Twitter groß gemacht hat. Doch es sind auch gerade diese Netzwerke, auf denen der Ausstoß an Hass am größten ist. Wer will, kann Frauen mit Vergewaltigung drohen, Menschen rassistisch beleidigen und hat auch ansonsten jede Menge Platz für Ausbrüche. Denn gelöscht wird nichts: Facebook, Twitter und Reddit weigern sich, dagegen vorzugehen. Sie legitimieren den Hass, indem sie ihn aktiv zulassen und das mit free speech, also der Meinungsfreiheit begründen.
Wer hier sauber argumentiert und denkt, spielt das eine Verständnis nicht gegen das andere aus. Es ist unbestritten, dass liberale Meinungsäußerungsfreiheit die Grundlage jedes menschlichen Zusammenlebens ist: Ein demokratisch legitimiertes Gewaltmonopol darf Menschen in ihrer Meinungsäußerung nicht belangen. Gleichzeitig muss ebenso unbestritten sein, dass Menschen keine Angst haben dürfen, ihre Meinung zu äußern, sondern eine menschenwürdige Gemeinschaft soziale und liberale Meinungsäußerungsfreiheit gewähren muss.