»Endlose rezeptive Gier, Einsamkeit und Depression« – so beginnt der Lead eines Artikels im NZZ-Feuilleton, in dem Tomasz Kurianowicz, ein Berliner Journalist und Literaturwissenschaftler, über ein »rastloses, schizophrenes System« schreibt, das er in den sozialen Netzwerken ausmacht.
Seine Gewährsleute tragen große Namen: Jean-Luc Godard, Jonathan Franzen, Karl Kraus, Goethe. Und er verweist auf die Forschungsergebnisse, die auf diesem Blog kürzlich Thema waren und uns sagen, dass Facebook unglücklich mache. Sein Fazit ist düster:
Der Gang durch Einkaufszonen und Schulen, wo jeder Zweite mit seinem Smartphone beschäftigt ist, beweist, dass wir uns voneinander entfernen. Der Mut zur Begegnung schwindet. Der Narzissmus obsiegt. Die seelische Verbarrikadierung nimmt zu.
Dem Artikel sind zwei Dinge vorzuhalten: Den Pessimismus seines Autors, der seine Sicht massiv einschränkt, und das Ignorieren der Betroffenen. Wer sich mit Menschen intensiv auseinandersetzt, die soziale Netzwerke nutzen, merkt, dass es zunächst Menschen wie alle anderen sind. Sie sind manchmal traurig und manchmal glücklich, vor gewissen Dingen haben sie Angst und vor anderen nicht. Ihre Motive, um soziale Netzwerke zu nutzen, sind unterschiedlich, genau so wie die Wirkungen, die sie auf sie ausüben. Das ist eine ähnlich starke Platitüde wie die, welche der Autor auf seiner gebildeten Tour-de-Force durch die Technologiekritik von Kulturmenschen von sich gibt:
- »nicht jede Information ist es wert, wahrgenommen zu werden«
- »[auf Facebook wird] ein Inszenierungsspiel betrieben, das viel zu häufig mit der Realität verwechselt wird«
- »man [ist] vom Leben der anderen wie hypnotisiert«
Tatsächlich, so ist es. Und so war es schon immer. Genau so, wie es schon immer die Warnenden gegeben hat, die in jeder Neuerung in der Verarbeitung von Information und in der Kommunikation zwischen Menschen einen Abgrund für die Menschheit erblickten oder sich veranlasst fühlten, uns die Barbarei zu prognostizieren. Auch die drohende Vermischung von virtueller Welt und realer Welt, die der Autor in den sozialen Netzwerken zu erkennen glaubt (» viel zu häufig mit der Realität verwechselt wird«), ist ein Topos in der Kulturkritik, der sich kaum belegen lässt. Niemand denkt, Facebook sei in irgend einer Form ein Ersatz für die »reale Welt«, auch wenn Außenstehende diesen Eindruck gewinnen könnten.
Seien wir genauer, als Kurianowicz es sein will. Schauen wir hin, sprechen wir mit Menschen und lassen wir uns den Blick nicht durch Metaphern und Ängste trüben, die uns bei der Adaption an neue Kulturtechniken einschränken, statt uns die Möglichkeit zu geben, mitzureden. Haben soziale Netzwerke unerwünschte, schädigende Auswirkungen auf Menschen? – Na klar. Aber entfernen wir uns ihretwegen voneinander, werden wir zu Narzisstinnen und Narzissten, verbarrikadieren wir uns seelisch? Ich denke nicht.
Der NZZ Artikel erinnert ziemlich genau an einen ähnlichen Artikel in der ZEIT vor einiger Zeit (sorry kein Link). Gebildete Herren, die sich unter ihresgleichen gegenseitig bestätigen und vielleicht mir Social Media nicht so vertraut sind kritisieren ‚von aussen‘. Sehr pointierter klarer Post von Philippe.
Danke, Philippe. Für mich ein typischer Feuilleton-Artikel, der eher sprachlich-dramatisch als mit sorgfältig abgewogenen Fakten beeindrucken will.