Verstehen – werten – idealisieren: Ein medienpädagogisches Dilemma

Zum Einstieg drei Beispiele aus medien- oder technischpägagogischen Debatten der letzten Zeit:

  1. In der NZZ denkt der Literaturwissenschaftler Tomasz Kuranowicz darüber nach, was es bedeutet, wenn Mensch und Maschine immer stärker verschmelzen:

    Sollte die Cyborg-Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten Realität werden – und vieles spricht dafür –, dann könnte es sein, dass die Missverständnisse und zwischenmenschlichen Abkapselungen zunehmen werden. Es ist an der Zeit, über die Risiken der Verschmelzung zwischen Mensch und Maschine zu diskutieren. Wie wollen wir leben? Welche Beziehungen wollen wir führen? Und wie wollen wir unsere Kinder erziehen? Auf dem Spiel steht nichts Geringeres als unsere Fähigkeit zur Empathie.

  2. Im Spiegel äußert sich der Soziologe Harald Welzer zu technischen Umwälzungen (online nicht verfügbar, Privatkopie kann ich per Mail zustellen):

    Welzer: Nehmen Sie ein Angebot wie Airbnb …
    SPIEGEL: … eine Digitalplattform, auf der Privatpersonen ihre Wohnung an Reisende vermieten können.
    Welzer: Mal abgesehen davon, dass plötzlich diese Rollkofferarmeen durch Wohnviertel rumpeln und es nicht immer lustig ist, wenn beim Nachbarn andauernd b soffene Touristen herumlärmen und morgens um vier zum Flughafen müssen. Wichtiger ist: So ein Angebot verändert die soziale Praxis. Im studentischen Milieu war das Reisen immer billig, weil man irgendwo in einer WG pennen konnte. Seit Airbnb überlegt sich das jede WG genau. Wenn sie das Zimmer umsonst weggibt, hat sie ein schlechtes Geschäft gemacht.
    SPIEGEL: Wann hat es Ihnen gedämmert, dass wir mitten in einem Regimewechsel sein könnten?
    Welzer: Das hat auch eine Weile gedauert. Das liegt bei mir aber daran, dass ich digital nicht affin bin. […] Ich hatte einen erschreckenden Gedanken, der mich dazu getrieben hat, mich näher mit diesen Konzernen auseinanderzusetzen. Wir haben eine Studie über Menschen gemacht, die im Nationalsozialismus verfolgte Menschen versteckt haben. Plötzlich war da der Gedanke: Es haben damals nicht viele überlebt, aber es haben doch ein paar Tausend geschafft, weil selbst so eine totalitäre Gesellschaft wie der Nationalsozialismus nicht eindringen konnte in bestimmte Bereiche. Und dann der Gedanke: Unter den Bedingungen von heute würde keiner unentdeckt bleiben. Es hätte keiner überlebt.
    SPIEGEL: Sie sehen schwarz.
    Welzer: Persönlich ist die Menge an Befürchtung größer als die Menge an Hoffnung.
    SPIEGEL: Die Vorteile wiegen die Nachteile nicht auf?
    Welzer: Nein. Vor allem ist der Nutzen ja selbst widersprüchlich. Je mehr man abgibt an Programme, an Apps, an Algorithmen, desto weniger Selbststeuerung hat man ja.

  3. Der Medienpädagoge Maik Riecken beklagt in einem Blogpost eine Romantisierung und Idealisierung in der Medienpädagogik, ein Phänomen, das er bei meinen Arbeit deutlich erkennt:

    Wampfler ist es immer daran gelegen, Zustände zu beschreiben. Eine Wertung von Verhalten erfolgt i.d.R. nicht. Stattdessen stehen die Möglichkeiten der Onlineangebote im Vordergrund. Diese bezweifle ich nicht. Ich bezweifle aber, dass eine Mehrheit der Jugendlichen Dienste wie YouNow in einer Weise nutzt, wie sie in den Augen mancher Medienpädagogen “gemeint” sind.
    Ich bezweifle, dass das auf Jugendliche beschränkt ist. Und ich bezweifle, dass das alles “Randphänomene” sind. Ich bezweifle die oft anzutreffende ungeheure Idealisierung. Pubertät ist geprägt von extremer Ambivalenz. Exploratives und kritikwürdiges Verhalten stehen in der Hochzeit dieser Phase paritätisch nebeneinander.

Diese drei Formen von Kritik kreisen um einen ähnlichen Problembereich: Auf der einen Seite kann eine Realität beschrieben werden, in der Menschen von der Möglichkeit Gebrauch machen, Zimmer übers Netz zu vermieten, Maschinen in ihren Körper zu integrieren, ihre Leben in einem Videostream an andere zu übertragen.

Daraus ergeben sich Fragen, warum Menschen so handeln, welche Konsequenzen das für sie hat, wie sie Vor- und Nachteile dieser Verhaltungsweisen einschätzen. Diese Fragen beantwortet man, indem man Daten sammelt und den Menschen zuhört, die so handeln.

Das damit verbundene Dilemma: Wer so vorgeht, wertet in der Regel nicht. Kurianowicz, Welzer und Riecken nehmen Wertungen vor: Sie halten es für ungünstig, dass Menschen Technologie so nutzen, wie sie das tun. Aus unterschiedlichen Gründen: Bei Kurianowicz dominiert die Vorstellung, gehaltvolle Kommunikation müsse möglichst unvermittelt erfolgen, bei Welzer die Angst vor dem Totalitarismus und bei Riecken die Erfahrung eines geschulten Erwachsenen, der Jugendlichen dabei helfen möchte, bestimmte Fehler nicht zu machen.

Wertungen reduzieren aber die Komplexität menschlichen Verhaltens. Kurianowicz muss all die Geschichten ausblenden, bei denen Cyborg-Menschen Technologie genutzt haben, um gravierende Probleme zu lösen; Welzer zwingt uns die Maxime auf, ein Leben zu führen, in dem alle jederzeit mit der Möglichkeit einer Diktatur rechnen und das sich an der Vorstellung einer bürgerlichen Freiheit orientiert; Riecken benutzt ein Mediennutzungmodell, bei dem gewisse Absichten und Erwartungen angenommen werden.

Das Dilemma: Wer beschreibt, idealisiert, weil Beschreibungen eine Neutralität voraussetzen, die mit Wertungen nicht zu vereinbaren sind. Und wer wertet, reduziert die Komplexität, weil nur Muster und Prototypen Grundlage einer Norm und Vergleich für eine Norm darstellen können.

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6 Kommentare

  1. Lisa Rosa sagt:

    Das sind sehr schöne Beispiele, die zeigen, dass (nicht nur) Medienpädagogen, sondern alle, die sich bemüßigt fühlen, über und mit Computer und Internet in den Bildungseinrichtungen mitzumischen, in der Lage sein sollte, 3 verschiedene Haltungen einzunehmen + immer zu wissen, in welcher Haltung er sich gerade befindet und sie bewusst zu wählen:
    1. die analytische Haltung (sowohl empirisch: was sehe ich hier?) als auch theoretisch (wie erkläre ich mir das?)
    2. die normative Haltung (was will ich, dass sein soll?)
    3. die strategische Haltung (wie könnte ich, was ich will, auf Basis der Befunde aus 1. und 2. befördern?)

    Was ich nicht sinnvoll finde, ist, wenn man die Haltungen vermischt und nicht bewusst unterscheidet – meist ohne zu merken, was man da tut. Dann verwechselt man die Ebenen, redet in Diskussionen aneinander vorbei (im besten Falle) oder erreicht nicht, was man erreichen will (ärgerlich) oder stiftet bei vielen anderen Verwirrung (schlecht).

    Welche Vorteile es haben könnte, alle drei Ebenen bei sich selbst zu prüfen, sieht man z.B. hier:
    Zur 1. Haltung finde ich gehört, dass man sich seinen eigenen Medienbegriff klarmacht und ihn kritisch beleuchtet, welche Implikationen er hat. Möglicherweise passen nämlich der eigene Medienbegriff und das, was man „eigentlich“ erreichen möchte (2. normativ) gar nicht zusammen. Das ist doch ärgerlich, oder?
    Ich kenne und schätze Welzer (nicht seine Person, sondern seine Arbeit) ziemlich und sehr. Er ist analytisch (empirisch und theoretisch) gut, wenn es um Climate Change und um Holocaust und Genocide aller Art geht. Aber tatsächlich ist er nicht nur „nicht medien-affin“ (saublöder Sprachgebrauch, der die Sache tatsächlich zum Privatvergnügen nach Geschmack erklärt!) – sondern er hat versäumt, sich als Gesellschaftswissenschaftler um einen adäquaten Medienbegriff zu bemühen, der zu seinen anderen theoretischen Können passt! Hier hat er einen echten Schrägstand (leider trifft er sich da mit Hartmut Rosa, obwohl er sonst so brillant ist.) Und so bleibt ihm eigentlich nur, aus dem Analytischen ins Normative auszuweichen, wo eigentlich noch analytischer Verstand gebraucht wäre, um ein kohärentes Bild zusammenzukriegen.

  2. mccab99 sagt:

    Hm. Erstmal danke für das Etikett „Medienpädagoge“. Ich habe lediglich eine Lehramtsausbildung und beschäftige mich seit langer Zeit mit Netzwerken und Serverdiensten. Diese Fähigkeiten ließen sich irgendwann kombinieren in Form der medienpädagogischen Beratung von Schulen.

    Nächste Woche werde ich eine Grundschule mit WLAN, Endgeräten und eine Schulcloud versorgen. Was die Schule dann mit dieser Struktur anfängt und wie sie diese entwickelt, ist dann der eigentlich spannende Prozess. Um die technologische Komponente wird die Komplexität von Systemräumen wie dem „Internet“ meinem Erleben nach gerne reduziert :o)… Benutzungskompetenz „reicht“.

    Menschen sind im Internet ja in gesellschaftliche, politische, technologische und wasweißichwas für Prozesse eingebunden. Wenn ich jetzt beschreibe, was Menschen mit welcher Intention im Netz machen, dann ist das auch natürlich immer nur ein Ausschnitt von Wirklichkeit, also in meinem Augen ebenso Reduktion von Komplexität.

    @brueedi
    Ich denke nicht, dass ich irgendwo behaupte, Younow sei ein Massenphänomen (das gilt eher für die Überwachungsoptionen staatlicher oder privatwirtschaftlicher Institutionen). Was sich aber schon behaupten lässt, ist, dass Dienste allgemein von Menschen (auch von Jugendlichen) eher konsumativ und weniger prosumativ genutzt werden – Philippe hat dazu auch schon selbst einen Artikel verfasst. Die (potentielle) Prosumativität gilt in medienpädagogischen Kreisen oft als Legimation oder Zielvorstellung. Nun kommt es ein wenig auf die Definitionsschwelle von „prosumativ“ an – ob z.B. „schon“ ein Selfie prosumativ ist oder „erst“ das mit Schülerinnen und Schülern erstellte Stadtwiki (ich habe mal die Wertungen in Anführungsstriche gesetzt).

    1. brueedi sagt:

      „Randphänomen“ verstehe ich im Zusammenhang mit Younow als ein im Wesentlichen auf Präpubertierende zugeschnittenes Format – Ausnahmen bestätigen die Regel. Zudem kommt es eher den Mädchen entgegen, sind es doch diese, welche jedes Schau- und andere Fenster dazu benutzen, sich selbst zu betrachten.

      Hoffentlich ist der Prozess der genannten Schule nach der Installation von Netzwerk, Computer und Cloud mehr als „nur“ spannend (wo doch alles zuerst einmal immer spannend ist. Stimmt, ich mag das Wort „spannend“ nicht). Dann beginnt nämlich die Ausbildung der LehrerInnen. Nein, nicht in der Diskussion um Medien. Die LehrerInnen sind resp. betrachten sich als durchaus medienkompetent. Was ihnen aber fehlt, ist so ziemlich alles, was über das Schreiben einer eMail hinausgeht. Es fehlt ihnen das Grundhandwerk im Produzieren und Teilen digitaler Medien. Dieses Handwerk will gründlich gelernt und insbesondere angewendet werden. Genauso, wie LehrerInnen ihre SchülerInnen zwingen, Dinge zu tun, müssen LehrerInnen gezwungen werden, eben dieses Handwerk anzuwenden. Am besten eignen sich dazu wohl gemeinsam im Team erarbeitete Legislaturziele: „Wir wollen das und das dann und dann erreicht haben“.

      Leider sind die meisten Schulen, allen voran die PH’s, weit von solchen Zielen entfernt.

      1. mccab99 sagt:

        Mit „müssen“ und „gezwungen werden“ sind wir jetzt aber schon sehr im Normativen, oder? Meine Erfahrung ist, dass in verlässlicher Infrastruktur auch Ideen wachsen und Räume für Kreativität entstehen. Schnell geht da aber nichts. Und die Widerstände werden durch dieses Normative nur weiter verstärkt.

    2. brueedi sagt:

      Hat absolut rein gar nichts mit meiner politischen Einstellung (http://oebs.ch), aber wohl mit meinem Alter resp. meinen Dienstjahren zu tun, wenn ich die Abneigung gegen „müssen“ und „zwingen“ als kuschelig (http://de.wikipedia.org/wiki/Kuschelpädagogik) bezeichne. Meine Erfahrung aus meiner absolut verlässlichen Schul-Struktur ist, dass sich die digitale Kreativität im Wesentlichen auf eMail und die http://www.arbeitsblaetter.ch beschränkt – wobei eMail als ein „Muss“ von der Schulleitung aufgezwungen wird.
      Der Computer hat es in den letzten 25 Jahren nicht in den Unterricht geschafft (hochwohllöbliche Ausnahmen bestätigen die Regel). Wenn ich die heutigen PH-Abgänger danach messe, wird er es auch in den nächsten 25 Jahren nicht schaffen. Gleichzeitig befindet sich der Computer längst im Unterricht. Dort wird er aber nicht Computer, sondern Handy genannt – und dort ist er meist verboten. Das „Warum“ ist längst geklärt.

      Zurück zu Wampflers:
      „… Einstieg drei Beispiele aus medien- oder technischpägagogischen Debatten der letzten Zeit“.
      Medienbildung ist nun mal eine technisch-pädagogische Angelegenheit, ob wir dies wahrhaben wollen oder nicht.

  3. brueedi sagt:

    Ja, Wampfler wertet grundsätzlich nicht, hält solche nach meinen Erfahrungen gar für verwerflich, zumal, wenn sie negativ aufgefasst werden können. Und, entgegen Riecken, bleibt Younow eine Randerscheinung und gelangweilten 10 bis 15-Jährigen vorbehalten, welche bisher und ohne Younow genau dasselbe gemacht haben, nämlich nichts.

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