Wie Vorurteile die Internet-Erfahrung überlagern

Das ist der dritte Teil von Gedanken zu meinem geplanten Re:Publica-Workshop. (Er wurde leider nicht berücksichtigt.) 

Im Internet (vielleicht allgemeiner: am Computerbildschirm) passieren Dinge, die zunächst wie Wunder erscheinen. Ich erinnere mich, wie mein Großvater, der gelernt hat, Bücher mit Lettern zu setzen, reagiert hat, als ich ihm zum ersten Mal Textverarbeitung vorgeführt habe. Die Neuartigkeit dieser Erfahrung verhinderte, dass wir sie präzise beschrieben konnten. Eine Reihe von Metaphern mussten verwendet werden, um darüber zu sprechen: Wir »surfen« auf »Seiten«, »folgen« Menschen oder gar »Freunden«, wir »chatten« in einer »virtuellen« Welt, währen wir uns im »real life« ganz anders verhalten.

Die Überforderung angesichts der Möglichkeiten von Internetkommunikation und das beschränkte Vokabular zu ihrer Beschreibung haben starken Anteil an einer Reihe von Urteilen über diese Form von Interaktion – von denen ich denke, dass es meist Vorurteile sind. Ich liste einige davon auf und bin wie immer dankbar für Ergänzungen:

  1. Es gibt eine Trennung zwischen der echten Welt und der virtuellen: Das Internet ist nicht real. Diese Haltung wird von Nathan Jurgenson und dem Team von Cyberology »Digitaler Dualismus« genannt (vgl. meinen Blogpost dazu). 
  2. Interaktionen im Internet sind oberflächlich, sie verbinden Menschen, die sich nichts bedeuten und einander häufig täuschen oder hintergehen.
  3. Informationen im Internet sind notorisch unzuverlässig. Weil alle beitragen können, ist im Gegensatz zu gedruckten Texten und Bildern unklar, was wahr ist; wir könnten überall manipuliert werden.
  4. Internetkommunikation ist generell gefährlich; nicht nur können uns andere Menschen Schaden zufügen, wenn wir uns im Internet bewegen, wir verändern uns auch selbst.
  5. Aus diesen Gründen ist die intensive Nutzung des Internets entweder Ausdruck eines Suchtverhaltens oder Zeitverschwendung; im Internet »surfen« wird schnell als Prokrastination bezeichnet und damit in die Nähe eins pathologischen Problems gerückt.
  6. Das Internet bringt in Menschen schlechte Züge hervor, sie werden aggressiv und beginnen anderen zu schaden, wenn sie sich hinter der Maske der Anonymität in Sicherheit vor Sanktionen wähnen.
Das Internet according to Vorurteile.
Das Internet according to Vorurteile.

Die Medienkonstellation Internet wird als komplexes Phänomen in Gesprächen oft auf triviale Erkenntnisse reduziert: »Facebook-Freunde sind keine echten Freunde«, »Man weiß nie, wer sich hinter einem Pseudonym verbirgt«, »Photoshop ermöglicht das Fälschen von Bildern«, »Jede(r) kann ins Internet« schreiben. Natürlich. Aber das wussten wir alle schon und das war alles auch schon so, bevor es Internetkommunikation gab.

Diese Diskussionen, so meine These, beanspruchen viele Ressourcen, die den Blick auf die produktiven Aspekte verschließen. Nur einige Beispiele: Zielloses Surfen im Internet kann Anstoß für eine Reihe von Lerneffekten sein, Internetbeziehungen können für viele Menschen eine Entlastung darstellen und zurecht einen wichtigen Stellenwert einnehmen, in vielen Fachbereichen finden sich differenzierte, aktuelle und präzise Informationsangebote im Internet. Wikipedia wurde in Bildungsinstitutionen Jahrelang schlecht geredet, obwohl eine ganz einfache Grundhaltung genügt hätte: Skeptisch bleiben und Falsches korrigieren bzw. Fehlendes ergänzen.

Fazit: Wir müssen lernen, präziser auszudrücken, was im Internet passiert.

5 Kommentare

  1. Lisa Rosa sagt:

    „Wir müssen lernen, präziser auszudrücken, was im Internet passiert.“ Ja, aber was heißt das? Meinst du, dass wenn wir nur besser beschreiben könnten, was im Internet los ist, es dann besser verstanden würde und die Vorurteile und Affekte verschwänden?
    Hm. Das würde ja bedeuten, dass die Vorurteile – also das Beurteilen des Neuen mit dem fürs Neue unangemessenen Beurteilungsbesteck fürs Alte – daher kommen, dass „wir“ das Neue nicht gut genug beschrieben haben? Also: genauer und verständlicher reden über das Neue?
    Ich denke, dass der Versuch natürlich immer gut ist, etwas adäquater zu beschreiben als man es gestern konnte. Aber ich denke, dass es noch mehr bringt (und auch dem, der es macht, mehr Spaß und Sinn bringt), Praxis mit dem Internet zu zeigen und mit anderen zusammen zu machen (Keine Workshops mehr ohne Selbsterkundung!). Einerseits. Und andererseits am Verständnis dessen, was da passiert „schrauben“. Und fürs Verständnis reicht das Beschreiben dessen, was passiert, auch wieder nicht aus. Da muss neu interpretiert und neu begriffen werden. Das ist Theoriearbeit und Modellieren von neuen Verstehenskonzepten. Die können am ehesten „verstanden“ werden, nach der praktischen Erkundung, in der erfahren worden ist, was das Internet für den Einzelnen tatsächlich zu bieten hat. (Und solche Erfahrungen kann man zwar organisieren, aber auch wieder nicht gleichzeitig für alle. Ich kenne Leute, die jahrelang alles verweigert haben, was online war. Aber kaum haben sie sich in jemanden verliebt, der in einer anderen Stadt wohnt, bumm – schon hatte die online Kommunikation plötzlich einen SINN, sie war sogar auf einen Schlag UNVERZICHTBAR! Und das Verständnis wandelte sich mühelos mit der veränderten Praxis. Anderes Beispiel: Meine Kollegen haben ihren ersten Eintritt in die Online-Welt gefunden über doodle. Web 2.0 war das LETZTE, aber doodle war klasse, denn es hat ihnen sofort geholfen beim Terminemachen. Leider muss man wirklich für jeden Einzelnen die richtige Lernumgebung und Lerngelegenheit finden (man kann nachhelfen). Es ist wie im wirklichen Leben: Gelernt wird nur, wenn es sein muss, oder wenn die Gelegenheit günstig ist und ein persönlicher Sinn erlebt werden kann.

    1. Danke sehr für diesen Kommentar. Du hast natürlich Recht. Aber ich denke, die Möglichkeit, sich auf das Digitale einzulassen ist stark daran gekoppelt, wie darüber geredet wird.

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