Ich werde immer wieder für Interviews zum Themenspektrum dieser Seite angefragt, auf die ich meist sehr gerne eingehe, weil mir im Gespräch oft Positionen klarer werden (wie z.B. im Gespräch mit Dominic Wirth mein Verständnis von Medienkompetenz) und andere Perspektiven eröffnet werden.
Hier ein Interview, das ich gerade per Email mit einem Schüler führe, der an seiner Maturarbeit schreibt. Ähnliche Interviews habe ich schon auf Google Docs publiziert, nämlich hier für eine Vertiefungsarbeit, hier für eine zweite Vertiefungsarbeit und hier für eine Projektwoche. Die Interviews stehen auch unter einer CC BY 3.0-Lizenz, d.h. sie dürfen verwendet werden, wenn die Quelle angegeben wird.
Wie sind die Netzwerke im Leben der Jugendlichen präsent?
Zur Entwicklung vom Kind zum oder zur Erwachsenen gehört, dass Jugendliche ihre eignen Netzwerke aufbauen, die ihnen eine von ihren Eltern unabhängige Orientierung ermöglichen. Dazu gehört das Finden einer eigenen Sprache, das Pflegen von Beziehungen, auch das Experimentieren. Dafür eignen sich soziale Netzwerke sehr gut: Ohne großen Aufwand lassen sich neue Leute kennen lernen, Diskussionen führen und auch Medien tauschen. Jugendliche können sich orientieren, sie lernen, was angesagt ist, sie können eigene Interessen finden und sich darüber mit Gleichgesinnten unterhalten.
Das soziale Leben von Jugendlichen wird heute durch eine digitale Schicht begleitet und somit auch erweitert: Nachdem man sich getroffen hat, kann man über Bilder, Videos und Gespräche digital weiter in Verbindung bleiben; man kann Inhalte mit Gruppen teilen und so auch Entscheidungen finden. Dabei geht es nicht nur um Unterhaltung und Ablenkung: Die Netzwerke erfüllen eine wichtige soziale Funktion, begleiten aber auch Lernprozesse. So sind Schulklassen heute via Facebook oder WhatsApp verbunden, tauschen Materialien aus und stellen sich gegenseitig Fragen.
Will man ihre Wirkung beurteilen, so muss man immer anerkennen, dass Chancen und Risiken miteinander gekoppelt sind. Wird Kommunikation vereinfacht, dann kann werden auch kommunikative Übergriffe vereinfacht.
Für mich ergibt sich daraus die Forderung, dass Jugendliche auch geschult werden müssen, um mit den Netzwerken korrekt umzugehen. Sie müssen über Gefahren informiert werden, aber gleichzeitig sollten sie auch nicht Angst bekommen, sondern dürfen durchaus experimentieren und Freude am Kommunizieren haben.
Die Nutzung von sozialen Netzwerken hat im Leben der Jugendlichen natürlich vieles verändert. Es tun sich komplett neue Möglichkeiten auf, miteinander in Kontakt zu treten. Meine Frage ist nun: Wie nutzen Jugendliche diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten (wie z.B. WhatsApp oder den Facebook-Chat)? Sehen Jugendliche die digitale Kommunikation als Ergänzung oder als vollständigen Ersatz zum Gespräch von Angesicht zu Angesicht?
Jugendliche tun heute wenig lieber, als sich zu treffen und miteinander zu »hangen«. Dieser umgangssprachliche Ausdruck ist nicht so negativ, wie er klingen könnte: Gerade im lockeren sozialen Umgang ohne spezifische Tätigkeit ergeben sich oft neue Ideen und Identitäten können sich formen. Deshalb denke ich nicht, dass Chats und soziale Netzwerke die direkte Kommunikation grundsätzlich ersetzen. Allerdings tun sie das in speziellen Situation durchaus. Ich mache zwei Beispiele: Es ist sehr leicht, jemanden online kennen zu lernen. Gerade junge Frauen verbringen viel Zeit damit, sich Profile und darauf befindende Fotos anzusehen. So lernen sie andere Jugendliche kennen. Es ist mit großem Risiko verbunden, jemanden direkt anzusprechen: Man könnte die andere Person überraschen, abgewiesen werden, sich aufgrund der Nervosität ungünstig verhalten. Online ist das viel leichter und kontrollierter möglich, oft reich ein unverfänglicher Kommentar, um mit jemandem ins Gespräch zu kommen. Diese Kontakte finden aber häufig so statt, dass durchaus beabsichtigt ist, die andere Person auch wirklich kennen zu lernen und sie zu treffen.
Zum zweiten Beispiel: Jugendliche, die nicht der Norm entsprechen, haben es im sozialen Leben schwerer: Sie finden z.B. keine Partnerin oder keinen Partner, sind unsicher, werden gehänselt oder gemobbt. Für sie bieten soziale Netzwerke die Möglichkeit, sich trotzdem mit anderen Menschen auszutauschen und zwar in Räumen, in denen ihr Aussehen oder ihr Verhalten, für die sie ausgestossen werden, keine Rolle mehr spielen. Die prominenten Frauen an der Spitze der deutschen Piratenpartei, Julia Schramm und Marina Weisband haben in Interviews immer wieder davon erzählt, wie wichtig für sie in ihrer Jugend ihr soziales Umfeld im Internet war. Soziale Netzwerke können also, knapp gesagt, einsamen Jugendlichen dabei helfen, soziale Kontakte aufrecht zu erhalten.
Wie Sie sagen können Jugendliche online ohne grossen Aufwand neue Leute kennen lernen, was auch sicher stimmt. Die Frage meinerseits lautet jedoch: Wird das wirklich gemacht? Lernen Jugendliche andere Jugendliche online kennen? Wie verbreitet ist das? – Haben sich nun zwei Jugendliche online kennengelernt stellt sich dann auch die Frage wie es weiter geht. Wird die Kommunikation und der Kontakt dann ins reale, analoge Leben übertragen oder bleibt ein Grossteil des Kontaktes im Web?
Ich habe das oben schon erwähnt. Ich würde zwei Abläufe beschreiben: Das Kennen Lernen kann leicht in Bezug auf Online-Tätigkeiten erfolgen. Wer z.B. an Fotographien interessiert ist, wird sich viele Bilder auf Flickr anschauen um sich mit Techniken, Motiven etc. vertraut zu machen. Dort hinterlässt man Kommentare, stellt Fragen – und kommt so mit Leuten in Kontakt, die man vorher nicht gekannt hat. Dabei geht es wohl zunächst vor allem ums Interesse an einer Sache, einem Thema. Verbreiteter ist aber wohl, dass man auf Facebook oder WhatsApp bemerkt, mit wem andere Freunde auch noch in Kontakt stehen. Wenn einem jemand gefällt oder interessiert, dann wird man in Gespräche eingebunden, hinterlässt einen Kommentar oder schreibt eine Nachricht. Die Netzwerke sind immer so gebaut, dass parallel zur sichtbaren Kommunikation auch noch private Chats möglich sind. Auf Facebook lässt sich so sehr unverfänglich nachfragen, wie es jemandem geht – dieses Interesse kann dann schnell zu Gesprächen führen. Hier wird wohl viel sehr unverbindlich geschrieben – und wenn der Funke springt (wie in jeder Art der Beziehungspflege), dann ist es möglich, den Kontakt zu vertiefen – durchaus auch mit realen Treffen. Ich würde sagen, unverbindliche Kontakte bleiben oft im Netz, verbindliche vertiefen sich in der Realität.
Wie sieht es aus mit der Anzahl von Freunden die Jugendliche haben? Wenn Ich mit jemanden über meine Arbeit spreche kommt (von der anderen Person) häufig die Einschätzung „Jugendliche haben heute von der Anzahl her mehr Freunde, jedoch ist der Kontakt heute oberflächlicher als dies früher der Fall war. Früher (ohne die sozialen Netzwerke) hatte man ein paar wenige, dafür sehr enge Freunde.“ Was halten Sie von dieser Aussage?
Glaubt man Robin Dunbar – als Einführung eignet sich dieser NZZ-Artikel: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/die-mechanismen-virtueller-beziehungsnetze-1.585038 – dann pflegen Menschen Beziehungen in relativ einheitlichen Mustern: Wir haben wenige (<5) Menschen, mit denen wir Mahlzeiten fast täglich teilen, pflegen zwischen 10 und 20 enge Freundschaften oder Beziehungen und »kennen« 150 Menschen so, dass wir mit ihnen im Bus ein Gespräch beginnen würden. Wenn nun auf Facebook die Zahl der Kontakte (das ist der bessere Begriff als »Freunde«) wächst, dann ist das eine täuschende Zahl: Erstens kommuniziert niemand mit 500 oder 1000 oder gar 5000 anderen Menschen regelmäßig. Wir haben halt alle dort auch noch unsere Kindergarten-Gspöndli aufgelistet, aber solche hatte man früher auch – nur konnte man sie nirgends sehen. Zweitens werden ja die meisten Aktivitäten meiner Facebook-Freunde ausgeblendet – ich sehe nicht einmal mehr, was sie posten. Sie sind eigentlich für mich unsichtbar – und ich meistens auch für sie.
Die Frage, ob Kontakte heute oberflächlicher sein können als früher, finde ich schwierig zu beantworten. Wie kann man das messen? Möglicherweise ist das so – aber diese Einbusse an Beziehungsintensität hat auch einen Nutzen: Man hat dafür mehr Kontakte. Kritikerinnen und Kritiker von Social Media, z.B. Sherry Turkle oder Bert te Wildt bemängeln, dass unsere »Freunde« in sozialen Netzwerken uns keinen Tee kochen, wenn wir krank sind. Ich bin nicht sicher, ob sie Recht haben. Früher hätten viele unserer Kontakte gar nicht gewusst, dass wir krank sind – und uns entsprechend auch keinen Tee gekocht. Die Kontakte auf Social Media sind nicht immer persönlich – aber auch nicht immer unpersönlich. Von meinen Twitter-Kontakten würden durchaus einige Tee für mich kochen – die meisten aber natürlich nicht. Würde unser ganzes Beziehungsnetz ins Internet verlagert, dann könnte es sein, dass wir einsam werden, ohne es zu bemerken. Aber diese Tendenz halte ich für stark übertrieben – wir sind alle immer noch in Beziehungsnetze eingebunden, ergänzen sie aber durch eine virtuelle Dimension, die oft nicht mehr ist als eine Art umfangreiches Adressbuch.
Seit den Anfängen der sozialen Netzwerken hat sich das Leben der Jugendlichen also verändert. Wie wird sich dies Ihrer Meinung nach in der Zukunft entwickeln? Werden soziale Netzwerke noch stärker ins Kommunikationsverhalten der Jugend integriert sein, oder ist der aktuelle Stand bereits die letzte Stufe der Entwicklung?
Ich denke, wir werden das erleben, was bei der Einführung von allen neuen Medien abgelaufen ist: Eine erste Phase des Alarmismus wird durch eine Phase der Gewöhnung abgelöst, an deren Ende die nötigen Kompetenzen so verbreitet sind, dass sich Jugendliche selbstverständlich auf sozialen Netzwerken bewegen und sie als einfache Kommunikationswerkzeuge verwenden – so wie man in meiner Jugend ganz selbstverständlich zum Telefon gegriffen hat, um jemanden anzurufen. Niemand fand Telefone aufregend, gefährlich oder neuartig. So wird das auch mit sozialen Netzwerken sein.
Die Zukunft kann man nicht vorhersehen. Man sagt, es erfolge eine viel stärkere mobile Nutzung, eine Integration des Internets in tägliche Abläufe, ohne dass dafür eigens große Geräte wie Computer benutzt werden müssen. Man könnte sagen: Wir werden nicht mehr »ins Internet gehen«, sondern immer »im Internet sein«. Unser Leben wird durch das Internet erweitert werden, nicht ersetzt.
(Weitere Fragen und Antworten folgen unter Umständen.)
