«Ich möchte mehr Zeit haben, um zu lernen und eine Lehrstelle zu finden. Ich möchte nicht plötzlich auf einer Baustelle landen. Ich möchte lernen, um später eine gute Ausbildung zu haben, damit ich in Zukunft glücklich sein kann. Ich möchte nicht leiden und so.»
Fatlum, 16 – zitiert in terra cognita 38/2021, S. 54
Das Baustellen-Problem lässt sich einfach formulieren: Obwohl die Schweiz Jugendlichen hochwertige gymnasiale und berufsbildende Ausbildungsgänge anbietet, gibt es viele, die auf der Baustelle landen.
Die Baustelle ist ein doppeltes Symbol: Einerseits steht sie für die Berufe der Eltern dieser Jugendlichen – sie schaffen es also nicht, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen im Vergleich mit ihren Eltern zu verbessern. Andererseits steht sie für Berufe mit schlechten Arbeitsbedingungen. Kurz: Niemand möchte, dass das eigene Kind auf einer Baustelle arbeiten muss.
Das Problem existiert deshalb, weil Menschen halt doch froh sind, wenn Gebäude günstig gebaut werden. Es sollen also die Kinder der »anderen« auf der Baustelle arbeiten – meist die Kinder der schlecht gebildeten Ausländer*innen.
Die Baustelle muss dabei nicht wörtlich eine Baustelle sein: Auch eine Backstube kann eine Baustelle sein, ein Hochregallager oder ein Verkaufsberuf. Und es gibt natürlich Menschen, die in Baustellenberufen glücklich werden.
Dann haben sie mich im Brückenangebot darauf hingewiesen, dass ich flexibel sein muss heutzutage, weil es sonst schwieriger wird, eine Stelle zu finden. Und dann bin ich halt Richtung Bauberuf gegangen.
Paolo, 19 – zitiert in terra cognita 38/2021, S. 55
Das Baustellen-Problem ist kein Zufall. Es ist ein Effekt des Bildungssystems. Bestimmte Jugendliche werden mittels Nudging dazu gebracht, Baustellenberufe zu ergreifen – oft auch ohne Lehrstelle. Schulische Diskriminierung und gesellschaftliche Benachteiligung hängen direkt zusammen.
Andreas Pfister fordert in seinem Buch »Neue Schweizer Bildung« unter anderem, dass alle Jugendliche besser qualifiziert werden. Würden seine Vorstellungen verwirklicht, dann müsste niemand die Schule verlassen, um auf einer Baustelle zu arbeiten. Pfister weist zurecht darauf hin, dass die Idealisierung der Berufslehren in der Schweiz die Baustellen-Problematik unsichtbar macht: Viele Menschen vertreten die Vorstellung, alle Jugendlichen würden eine Berufslehre absolvieren, die ihnen berufliche Aufstiegschancen und gute Arbeitsbedingungen ermöglicht. Das ist aber nicht so.
Spricht man mit gebildeten Menschen über die Baustellen-Problematik, dann zucken viele mit den Schultern und sagen, man müsse halt die Arbeitsbedingungen auf Baustellen verbessern. Ja, das müsste man. Nur: wie denkt man das systemisch? Niemand will teurere Baustellen. Wären alle Jugendlichen bei der Berufswahl gut qualifiziert, würden sie Berufe mit guten Arbeitsbedingungen wählen. Entsprechend müssten Löhne, Arbeitszeiten, Weiterbildungsmöglichkeiten etc. auf Baustellen verbessert werden – was sie teurer macht. Das ist aber kein politisches Ziel.
Die Benachteiligung von Kindern ausländischer und schlecht gebildeter Eltern ist kein Zufall, keine unbeabsichtigte Schattenseite eines ansonsten makellosen Bildungssystems. Sie ist eine Notwendigkeit, um die Kosten für bestimmte Arbeiten und Dienstleistungen tief zu halten.

Da möchte ich widersprechen. Erstens finde ich es extrem schade, dass (besonders bei der urbanen, gebildeten Gesellschaft) die Handwerksberufe einen so schlechten Ruf haben. Ein Bauarbeiter ist nicht jemand, der nichts Richtiges kann, sondern jemand, der gut mit den Händen arbeitet, wobei aber auch der Kopf inzwischen bei fast allen Berufen gebraucht wird. (Ein Autolackierer muss mehr über Chemie wissen, als mancher Maturand.) Ironischerweise ist es dann genau die Sorte Leute, die Handwerker von oben herab betrachtet, die sich dann ärgert, wenn sie keinen kompetenten Fachmann für die Neugestaltung des Gartens findet.
Zweitens sind, dank jahrelangem Einsatz der Gewerkschaften, die Arbeitsbedingungen im Handwerk nicht mehr so schlecht wie früher. Es gibt in fast jeder Branche einen GAV. Zudem verbessert das schlechte Ansehen der Berufe die Arbeitsbedingungen: weil immer weniger Lehrstellen besetzt werden können, wird über GAV bezahlt, um überhaupt an die dringend benötigten Leute zu kommen.
Drittens bieten handwerkliche Berufe viele Weiterbildungsmöglichkeiten. Vom Maurer über den Polier zum Geschäftsführer eines Storenbauers, vom Kältemonteur über den Kältetechniker zum Filialleiter eines Lüftungstechnikers, vom Vermesser über den Ingenieur in die Geschäftsleitung eines Geometers, alles Beispiele aus meinem Umfeld.
Das Problem ist aus meiner Sicht nicht die Baubranche, sondern es ist die Herkunft der Jugendlichen bzw. die fehlende Förderung und zum Teil falsche Anforderungen. Für die Berufsmatura werden so gute Deutschkenntnisse verlangt, dass jemand mit anderer Muttersprache es vielleicht gar nicht versucht (weil er auch vom Elternhaus nicht die Motivation und Unterstützung bekommt), obwohl er auch ohne diese Kenntnisse ein guter Bauleiter oder Schreinermeister würde.