Das Gymnasium als Schulprofil, nicht als Elite-Schule – Argumente gegen selektive Bildungssysteme

Mehr als 20 Prozent will man nicht, und wenn man die 20 Prozent halten wolle, dann gibt es keine andere Möglichkeit, als zu filtern. Denn die Ressourcen wachsen nicht mit den Anmeldungen, weder die Schulhäuser, noch die Lehrkräfte. In Kantonen mit besonders viel Anmeldungen wird umso mehr gefiltert.

Elsbeth Stern, SRF (leicht angepasst)

Was die Bildungspsychologin Elsbeth Stern zu einem scheinbaren Konsens zu den Zürcher Gymnasien sagt, hat mich zu ein paar grundsätzlichen Gedanken zur Funktion von Gymnasien angeregt. Aus meiner Sicht gibt es zwei Sichtweisen:

  1. Gymnasien sind Schulen für ausgewählte Schüler*innen: Für diejenigen mit guten Noten, für diejenigen, die Aufnahmeprüfungen bestehen. (Stern selber leitet eine Quote von 20% aus der Normalverteilung des IQs ab und definiert das Gymnasium als Schule für die besonders intelligenten Menschen.)
  2. Gymnasien sind Schulen mit gymnasialen Lernangeboten, in denen eine breit angelegte, humanistische Allgemeinbildung sowie propädeutische Lernangebote den größten Teil des Unterrichtsangebots beanspruchen.

Diese Sichtweisen drücken Ideale aus: In der Realität sieht es so aus, dass eine gebildete Elite Gymnasien als Zugang zu Bildung exklusiv hält, um ihre Bildung quasi an ihre Kinder vererben zu können.

Ich möchte mich dafür einsetzen, dass Gymnasien stärker als eines unter mehreren Schulprofilen verstanden werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine bestimmte Lernkultur pflegen (wie ich mir die genau vorstelle, habe ich in der NZZaS kürzlich ausführlich dargelegt) und auf weitere Ausbildungsgänge vorbereiten. Neben Gymnasien gibt es weitere Schulen mit weiteren Schultypen. Eine davon ist sicher stärker praktisch ausgerichtet, verbindet berufliches mit schulischem Lernen. Eine könnte eine Sportschule sein, die Kindern erlaubt, intensiv zu trainieren. Denkbar sind Kunstschulen, Waldschulen etc.

Was bedeutet das aus meiner Sicht:

  • Gymnasien werden offener, sie legen keine Zugangsbedingungen fest, sondern helfen Schüler*innen herauszufinden, ob gymnasiales Lernen zu ihnen passt.
  • Gymnasien beginnen zu individualisieren, sie verstehen Unterricht als die Aufgabe, allen Schüler*innen dabei zu unterstützen, gymnasial zu lernen. Die Möglichkeit, Schüler*innen als zu wenig »gut« (Stern) oder unpassend zu bezeichnen, entfiele.
  • Das Gymnasium verlöre an Prestige, es wäre sinnlos für Eltern, ein Kind zum Besuch einer Schule zu animieren, die es nicht besuchen will, die nicht zu ihm passt.
  • Entsprechend müsste man wohl in der Schweiz davon abrücken, dass der Abschluss des Gymnasiums automatisch zu einem Zugang zu universitären Lehrgängen berechtigt. Auch da müsste darüber nachgedacht werden, für wen sich Studiengänge eigenen und welche Qualifikationen erwartet werden.

Die Sicht auf das Gymnasium als Königsweg führt zu vier Problemen, die generell mit selektiven Bildungssystemen verbunden sind:

  1. Zu einer in Teilen problematischen Lernkultur an den Gymnasien, die zu stark von Stoffvermittlung und überholter Prüfungskultur geprägt ist – und bei der davon ausgegangen wird, gymnasiale Schüler*innen seien sehr homogen, könnten also alle dieselben Aufgaben lösen.
  2. Zur Überhöhung von Lehrpersonen an Gymnasien, die mehr verdienen als andere Lehrpersonen (teilweise durch längere Ausbildung gerechtfertigt) – und in einer Machtposition mitentscheiden, wer die Schule besuchen darf, die einem viele Türen öffnet.
  3. Zu Schüler*innen, die an Gymnasien überfordert sind, die unter dem Druck leiden oder eine Schule besuchen, die nicht zu ihren Bedürfnissen passt.
  4. Zu Schüler*innen, die scheitern, weil sie entweder die Aufnahmebedingungen nicht erfüllen oder Gymnasien verlassen müssen.

Die Probleme könnten behoben werden, wenn Gymnasien zu einem Schulprofil unter mehreren, gleich berechtigen würden. Mir ist klar, dass das nicht morgen passieren wird; dass die elitäre Funktion von Gymnasien nicht so leicht verschwindet. Ich schreibe das auf, weil mir wichtig ist, festzuhalten, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, dass Sterns »man« nicht alle Menschen sind, sondern diejenigen, die ihre Sichtweise teilen. Ich teile sie nicht.

man in brown sweater sitting on chair

2 Kommentare

  1. phb sagt:

    Zum Anfang: 2 Sichtweisen …. Ich stimme zu, beide Positionen schliessen sich auf D bezogen nicht aus! Das deutsche Gym hatte scharfe Aufnahmeprüfungen und beschulte in meiner eigenen Kindheit nur ca 5 bis 7 % eines Jahrgangs! Heute sind es in den Zentren etwa 50 bis 60%. Eine weitere Öffnung scheint mir nicht sinnvoll zu sein, weil nicht unbedingt jeder Schüler die Uni besuchen will / wird! Was Eltern anstreben, ist klar! Guten Unterricht und gute Schulen! Und genau darum geht es in der Tat: Wie jemand ins Leben startet und wie er / sie schlussendlich zum Erfolg gelangt, ist zweitrangig! Gymnasien unterrichten grundsätzlich anders als Haupt / Realschulen, und das müssen sie auch! (These 2). Die Öffnung der Bildungssysteme plus die Übergangsmöglichkeiten sprich Wechsel bilden den Kern von guten Bildungssystemen. Und Uni sls Pathway, auch für den Späteonstieg, ohne Abitur!

  2. Kurt Wiedemeier sagt:

    Lieber Philippe

    Dein Titel ist zweischneidig:

    Das Gymnasium als Schulprofil, nicht als Elite-Schule. Da bin ich völlig einverstanden mit dir. Das war auch immer mein Credo als Rektor der KSWE.

    Argumente gegen selektive Bildungssysteme: Meinst du das wirklich ernst? Keine Selektion heisst in der Konsequenz eine Gesamtschule für alle. Frag mal in Deutschland, was sie zu ihren Erfahrungen mit Gesamtschulen zu sagen haben. Statt solche Hirngespinste weiter zu verfolgen, wäre wohl eher zu fragen, ob bestimmte Wege in der Schule automatisch zu besseren Lebensbedingungen führen. Warum verdienst du rund das Doppelte eines Tramfahrers oder das Dreifache einer Kassierin in der Migros? Bist du bereit das meritokratische Argument zu verlassen und den gleichen Lohn für alle zu fordern? Manchmal ist die Wahrheit konkret (Dorothee Sölle) und kontrastiert mit deinen wunderschönen Theorien.

    Herzliche Grüsse

    Kurt

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