Digitale Ideologiekritik

In den Ferien bin ich endlich dazu gekommen, den hervorragenden »Rabbit Hole«-Podcast der New York Times ganz zu hören. In den ersten Folgen geht es um die Geschichte von Caleb Cain, einem jungen Amerikaner, der durch Youtube-Empfehlungen in ein »Rabbit Hole« geraten ist, in den sprichwörtlichen Kaninchenbau von Alice im Wunderland, in dem sich eine fantastische Welt eröffnet. Cains »Rabbit Hole« war aber eher düster: Es waren die frauen- und fremdenfeindlichen Inszenierungen und Argumente der Alt-Right, von dem ihm immer extremere Versionen vorgeschlagen wurden – bis er durch andere Youtube-Videos gemerkt hat, dass es kritische Sichtweisen auf die Alt-Right-Thesen gibt (und auch viele weitere »Rabbit Holes«).

Was Cain beschreibt, ist seine Erfahrung von Ideologiekritik. Im folgenden, etwas längeren Beitrag beschreibe ich zunächst, was damit gemeint ist. Danach frage ich, wie diese Form von Kritik im Internet funktionieren kann – praktisch wie auch technisch.

Screenshot NYT

Was ist Ideologiekritik?

Für den folgenden Abschnitt stütze ich mich auf die Argumentation der Philosophin Rahel Jaeggi in ihrem Aufsatz: Was ist Ideologiekritik? (2009)

Ideologiekritik ist als Begriff von der Frankfurter Schule stark gemacht worden. Sie »dechiffiert«, so Jaeggi, »die Umstände, die es der Herrschaft erlauben, sich durchzusetzen« (269). Das tut sie als eine Form von Kritik, die durch vier Merkmale ausgezeichnet ist:

  1. Sie zeigt, dass soziale Verhältnisse nicht selbstverständlich oder natürlich sind, sondern gemacht.
  2. Sie geht von inneren Widersprüchen der Ideologie aus.
  3. Sie misstraut den Auslegungen von Individuen und der Interessen, die sie zu haben vorgeben.
  4. Sie verschränkt Analyse und Kritik, kritisiert durch Analyse.

Diese vier Merkmale lassen sich an einem Beispiel konkretisieren (das Beispiel stammt nicht aus dem Text von Jaeggi): »Die Hassliebe gegen den Körper färbt alle neuere Kultur«, heißt es der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer. Fast prophetisch gehen die Philosophen auf die Praxis des Vermessens von Körper und Körperfunktionen ein, das »durch die Teilnahme an seiner Gesundheit nur sehr dünn rationalisiert« sei, in Wahrheit gehe es beim Training, beim Kalorienzählen und beim Vermessen um den toten Körper. Statt eine Beziehung zum Körper herzustellen, schaffe Sport eine größere Distanz. Wir sehen:

  1. Sport und das Verhältnis zum Körper sind hier nicht selbstverständlich;
  2. sondern werden aus sich selbst einer Kritik unterzogen,
  3. die nicht bei den Aussagen von Sportler*innen stehen bleibt, sondern
  4. Kritik radikal aus einer philosophischen Analyse ableitet.

Ideologiekritik ist aber aus mehreren Gründen komplizierter, wie Jaeggi konstatiert:

  • Ideologien sind eine falsche Deutung eines falschen Zustands (268) – am Beispiel Sport: Ein gesunder Körper wird als wichtig für die Gesundheit erachtet, obwohl Sport Ausdruck einer Entfremdung vom Körper ist (falscher Zustand), der nicht aufgehoben, sondern durch Training und Vermessung verstärkt wird.
  • Ideologiekritik droht paternalistisch zu werden, wenn Kritiker*innen Verblendeten sagen, was sie falsch sehen. (272) Wer Sport treibt, will und muss sich nicht von Philosoph*innen anhören, dass es dabei um Tod und Unterwerfung des Körpers gehe.
  • Ideologien sind gleichzeitig wahr und falsch (276): Die Sport-Ideologie erkennt, dass eine Entfremdung zum Körper stattfindet, versteht sie – aus der Sicht der Ideologiekritik –  aber falsch und reagiert falsch darauf. »Ideologiekritik deckt auf, dass wir etwas (die gesellschaftlichen Zustände) falsch verstehen und dass diese falsch sind.« 

Wie funktioniert Ideologiekritik?

Jaeggi diskutiert einige recht schwierige Paradoxien im Umgang mit Ideologiekritik, die ich hier weglasse. In ihrer Schlussbemerkung (293) wird sie konkret und zeigt, was Ideologiekritik konkret bewirkt:

  1. Ideologiekritik ist auf Konflikte angewiesen, sie kann/will sie nicht auflösen, sondern flüssig machen, indem sie sie immer wieder vorläufig überwindet. Um beim Beispiel des Körpers zu bleiben: Ideologiekritik kann keine Harmonie mit dem Körper in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft herstellen, sondern Praktiken der Vermessung und der Leistung im Umgang mit dem Körper kritisieren und dadurch provisorische Lösungen vorschlagen.
  2. Ideologiekritik blickt hinter Selbstverständnisse und Naturalisierungen – sie tut das dann aber nicht paternalistisch, wenn sie die Sichtweisen der Betroffenen rekonstruiert und dabei einen Prozess fortführt, der »ohne die Mitwirkung der kritisierten Position (und deren Protagonisten) nicht möglich ist« (294).
  3. Die Kritik kommt also nicht von außen und bezieht sich gleichzeitig auf das, was Betroffene als Probleme ansehen: Sie ist Anstoß für eine Transformation falscher Zustände, wenn diese von den Betroffenen ohne ideologische Verblendung gesehen werden.

Ideologiekritik sei »aktiv und passiv zugleich«, schreibt Jaeggi: »Da sie immer auch auf den performativ-praktischen Effekt der ideologiekritischen Erschütterung zielt, ist sie, wie das von ihr Kritisierte, zugleich Theorie wie (als Theorie) Praxis«.

Alt-Right-Ideologie

Die Alt-Right-Ideologie spricht besonders junge Männer wie Caleb Cain an. Sie geht von ihrer schwierigen Situation aus: Ausbildungsangebote entsprechen oft nicht ihren Wünschen und Interessen, sie finden keine beruflichen Tätigkeiten, in denen sie ihre Potentiale abrufen können, die Formen von (Game-)Kultur, die sie mögen, sind gesellschaftlich oft nicht angesehen – und sie haben Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere in Bezug auf Partner- und Freundschaften. Viele dieser Männer ziehen sich zurück, werden schüchtern – und schauen dann viel Youtube.

Die Kanäle, die sie dort ansprechen, verkaufen ihnen eine Ideologie. Im NYT-Artikel zu Cain wird sie wie folgt beschrieben:

Western civilization was under threat from Muslim immigrants and cultural Marxists, that innate I.Q. differences explained racial disparities, and that feminism was a dangerous ideology.

The Making of a Youtube-Radical

Kurz: Diesen jungen Männern steht etwas zu, was Fremde ihnen wegnehmen. Ihre Situation erklärt sich aus Problemen, welche Feministinnen und sogenannte »social justice warriors« (SJW) verursacht haben, ausgehend von Theorien des »Kulturmarxismus«, mit denen linke Bewegungen versuchen, Meinungsfreiheit und die »westliche« Kultur insgesamt abzuwerten und einzuschränken.

Ein weiterer Bestandteil der Ideologie ist die Form, mit der sie daherkommt: Figuren wie Joe Rogan oder Stefan Molyneux geben vor, eine offene Debatte zu suchen, in der Fakten entscheidend seien. Gegenargumente seien durchaus willkommen, letztlich gehe es darum, das beste Argument zu finden.

So entsteht der Eindruck, die Alt-Right-Figuren hätten die echte Ursache für die Probleme junger Männer aufgespürt (Migration, Feminismus und »Kulturmarxismus«) – und zwar in einem objektiven, faktenbasierten Prozess.

Cain sagt im Podcast einmal, er hätte zutiefst rassistische Aussagen akzeptiert, weil sie als wissenschaftliche Argumente vorgebracht die realen Zustände tatsächlich erklären konnten.

Das Beispiel zeigt, dass hier eine falsche Deutung eines falschen Zustands vorliegt: Die Probleme junger Männer und die oft miserablen Lebensbedingungen nicht-weißer Menschen in westlichen Ländern sind ein Problem, ein falscher Zustand. Es ist aber auch falsch, sie mit Alt-Right-Ideolologie zu erklären. So vermischen sich auch hier wahr und falsch – die Ideologie sagt zurecht, dass es diese Probleme gibt. Sie erklärt sie aber falsch.

Ideologiekritik auf Youtube

Kritik an dieser Ideologie muss von innen kommen. Was heißt das?

  1. Formal muss Ideologiekritik so vorgetragen werden, dass die Zielgruppe angesprochen ist, dass deutlich wird: Hier reden nicht die Professor*innen, die Eltern, die Arbeitgeber*innen zu uns, die ohnehin nicht verstehen, was unsere Probleme sind – hier redet jemand unsere Sprache.
  2. Inhaltlich muss es um die Interessen und Bedürfnisse der Zielgruppe gehen.
  3. Die Entlarvung, welche Ideologiekritik mit sich bringt, sollte sich auf innere Widersprüche beziehen.

Cains Erfahrung von Ideologiekritk waren die Videos von Destiny und ContraPoints, unten ein Gespräch der beiden. Destiny und ContraPoints arbeiten mit Streams und Youtube und lassen sich auf Debatten mit Figuren der Alt-Right-Szene ein.

Und sie knüpfen auch an Motive an, welche die Alt-Right-Videos aufgreifen: Etwa die Kritik an den SJW. Auch ContraPoints und Destiny finden es teilweise lächerlich, wie in College-Diskussionen Sprache reglementiert wird und in Diskussionen rund um korrektes Verhalten symbolische Aspekte wichtiger werden als Argumente.

Sie sprechen direkt, teilweise auch mit vulgärer Sprache und kennen sich mit Gamekultur und interaktionsorientierten Formaten aus. Gleichzeitig arbeiten sie aber radikaler mit wissenschaftlichen Quellen und Fakten: Sie verwenden die Standards, welche Alt-Right-Exponenten zu verwenden vorgeben – wenden sie aber gegen sie.

Was zeigen sie also letztlich? Die Ideologie widerspricht sich selbst. Auch wenn die Wahrnehmungen der Zielgruppe ernstzunehmen sind, stellen Fremden- und Frauenfeindlichkeit keine Lösung für die damit verbundenen Probleme dar.

Warum digitale Ideologiekritik »edgy« sein muss

David Eugster hat 2017 mit Jugendlichen darüber geredet, was sie an Alt-Right-Memes und -Scherzen fasziniere. Dabei machte er eine Beobachtung, die gut zum »Rabbit Hole« von Cain passt:

Interessanterweise distanzierten sich alle sofort davon: Die Inhalte teile man eigentlich gar nicht, es gehe primär darum, Dinge zu posten, die «zu weit gehen». Denn das sei doch Humor: Regeln zu brechen, Grenzen zu überschreiten.

Der Nazifrosch macht «Reeee!», WoZ

Grenzüberschreitungen werden auf Englisch als »edgy« bezeichnet: Humor und Inhalte sind »edgy«, wenn sie mit gesellschaftlichen Konventionen brechen. Solange sich Ideologien und Ideologiekritik innerhalb von breit geteilten Normen bewegen, können sie die hier relevante Zielgruppe weder ansprechen noch eine Authentizität beanspruchen, die wichtig ist. Die Alt-Right-Ideologie tritt mit dem Anspruch an, keinen Bullshit zu tolerieren, zu sagen, wie die Dinge wirklich sind: Offen, frei, ohne Rücksicht auf Verluste.

Das spricht junge Menschen an, die das aus der Schule, aus den Medien und von Eltern oft nicht kennen. Wenn nun Ideologiekritik diese Grenzüberschreitungen meidet, steht sie formal auf verlorenem Posten. Sie verliert das Publikum, das auch aufmerksamkeitsökonomisch davon ausgeht, dass immer mehr Regeln zurückgewiesen werden.

Destiny und ContraPoints sind deshalb erfolgreich in ihrer Ideologiekritik, weil sie ebenfalls »edgy« sind. Sie schrecken nicht davor zurück, Diskussionsteilnehmer*innen zu beleidigen, krasse Witze zu machen und alles in Memes und Internet-Humor zu verwandeln.

Die Bedeutung von Empathie

Im Podcast wird zudem betont, wie wichtig es ist, dass Ideologiekritik Menschen abholt. Cain hat ursprünglich auf Youtube nach Zerstreuung und Hilfe für seine schwierige Situation gesucht, als er das Studium abgebrochen hatte und arbeitslos bei seinen Großeltern lebte. Die Alt-Right-Kanäle haben ihn angesprochen und abgeholt.

Dasselbe ist passiert, als er später auf die linken Youtube-Angebote gestoßen ist, welche ihm vor Augen geführt haben, wie verblendet er war. Die entsprechenden Videos haben nicht von außen zu ihm gesprochen – sondern ganz im Sinne der Ideologiekritik, wie sie Jaeggy skizziert, von innen. Sie respektieren, dass es junge Menschen gibt, die Alt-Right-Inhalte interessant und anregend fanden, aber bereit sind, sich davon zu emanzipieren und sich aufklären zu lassen.

Die technische Seite von Ideologiekritik

Die Arbeiten der NYT machen klar, wie groß der Anteil des Youtube-Algorithmus‘ an der Verbreitung von Ideologie und Ideologiekritik ist. Cain kam in Kontakt mit den Alt-Right-Inhalten, als Youtube darauf erpicht war, die Interaktionszeit von User*innen zu erhöhen. Als bei Youtube die Erkenntnis einsetzte, dass der Empfehlungsalgorithmus Filterblasen produzierte, wurden Cain auch ideologiekritische Videos angezeigt, die ihm halfen, seine Sicht zu korrigieren.

Empfehlungsmechanismen und Anzeigeverfahren haben auf digitalen Plattformen einen entscheidenden Anteil an der Verbreitung von Ideologie. Ideologiekritik muss diese Mechanismen kennen und nutzen, wenn sie wirksam sein will. Sie muss also gleichzeitig ihr Publikum und den Algorithmus bedienen. Das ist ein äußerst komplexer Vorgang, der wenig transparent ist und ständig wechselt.

Fazit: »Prozess, der nur Beteiligte kennt« 

»In einem Aufklärungsprozeß gibt es nur Beteiligte«. So hat Habermas in Theorie und Praxis 1978 (S. 45) die Einsicht formuliert, dass Betroffene Aufklärung mitgestalten müssen, sie ihnen nicht von außen aufgezwungen werden kann. Cain hat selber begonnen, einen Youtube-Kanal zu betreiben, nachdem er dank der Videos von ContraPoints und Destiny selber Ideologiekritik üben konnte.

Geht es darum, junge Menschen dabei zu unterstützen, Ideologiekritik üben zu können, so müssen sie aktiv beteiligt sein. Verfügen sie über Möglichkeiten, gesellschaftliche Zustände und ihre Deutungen zu reflektieren, gelingt das. Sie brauchen dafür Zugriff auf diverse Medienangebote haben, welche ihnen helfen, Ideologie als solche zu entlarven, zu korrigieren und politisch aktiv zu werden. Ideologiekritik ist weiterhin ein sinnvolles Instrument.

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