Das Nerd-Narrativ in der digitalen Bildung

Es gibt aber einige Leute, die haben sich dieses Wissen in einem erstaunlichen Maße angeeignet. Wir nennen sie „Nerds“ oder „Experten“ und die meisten von uns haben eine gewisse Ehrfurcht vor diesen Menschen, weil sie Dinge können und verstehen, die einige von uns nicht verstehen.

Diese Definition von »Nerd« stammt von Michael Seemann. So ist Nerd im Folgenden zu verstehen: Als eine Person, die im Bereich der Datenverarbeitung, der Informationstechnologie, der Programmierung Fachkenntnisse hat. Ich meine das nicht abwertend, sondern als verdichtete Bezeichnung.

Von einigen dieser Personen geht in Bezug auf die Frage, die Bildung im Kontext der digitalen Transformation gestaltet werden müsse, ein bestimmtes Narrativ aus. Das Narrativ kann auch als Forderung bezeichnet werden, die dann zu einer Erzählung wird, wenn davon ausgegangen wird, die Forderung ließe sich mühelos umsetzen, wenn alle anderen nur wollten.

Worin besteht die Forderung? Grundsätzlich darin, Informationstechnologie nur einzusetzen, wenn sie hohen Anforderungen genügt:

  1. Datenschutz: Lösungen müssen maximal datensparsam sein, Daten sehr gut schützen und sie nur auf eine transparente Art und Weise verarbeiten.
  2. Anschlussfähigkeit: Erlauben die Tools den Nutzer*innen, über ihre Daten zu verfügen und sie einfach in offenen Formaten abzuspeichern, die sie auch mit anderen Werkzeugen verwenden können?
  3. FLOSS: Software sollte »free/libre« sowie »open source« sein, d.h. mit offen zugänglichem Quellcode, der sicherstellt, dass sie weiter entwickelt werden kann und alle Nutzer*innen nachvollziehen können, wie die Software genau funktioniert.
  4. Eigene Lösungen: Nutzer*innen sollten so stark wie möglich auch in der Lage sein, eingesetzte Systeme zu warten, anzupassen und zu programmieren. Sie sollten sich dabei nicht in Abhängigkeit von kommerziellen Unternehmen begeben.

Wenn nun jemand aus einer didaktischen Perspektive sagt, ein Tool wie etwa Padlet könne sinnvoll im Unterricht benutz werden, dann fragen die Nerds:

  1. Wie geht der Dienst mit Daten um?
  2. Wie gut lassen sich Daten exportieren?
  3. Ist die Software FLOSS?
  4. Kann ich Padlet modifizieren, in meine bestehenden Systeme einbauen?

Ein Text, in dem das geprüft wird, liest sich dann so wie bei Armin. Das sind völlig legitime Analysen, mehr noch: Diese Forderungen werden zurecht erhoben. Es gibt keine sinnvollen Argumente gegen die Aussage, dass gute Software-Lösungen diese Kriterien erfüllen sollten.

Ein Narrativ entsteht dann, wenn aus diesen Erwartungen abgeleitet wird, Schulen könnten problemlos solche Software einsetzen, sie müssten jede Nutzung von Software an diesen Erwartungen messen. Vergessen geht dabei aber, dass an Schulen weitere Ansprüche an Softwarenutzung gestellt werden:

  • Können damit auch Kinder und unerfahrene Lehrkräfte arbeiten?
  • Steht Support zur Verfügung?
  • Funktioniert ein Werkzeug ähnlich wie privat und im Berufsleben verwendete?
  • Kann die Software auch auf mobilen und privaten Geräten genutzt werden?
  • Eignet sich die Software für den Aufbau der relevanten Kompetenzen?

Hier verzerrt das Nerd-Narrativ: Es betrachtet diese Fragen so, als würden sie vom Wesentlichen ablenken, dabei sind sie für die Implementierung und den Nutzen der IT an Schulen oft entscheidend.

Um einen Vergleich zu machen: Ich bin als Germanist davon überzeugt, dass Schulen generell leichte Sprache einsetzen sollten. Auf Arbeitsunterlage in der Schule, in Elternbriefen und Reglementen. Es gibt kein sinnvolles Argument gegen den Einsatz leichter Sprache, weil sie den Schwächsten nützt und den Privilegierten nicht schadet. Leichte Sprache ist aber ungewohnt, die Regeln müssen geübt werden, Menschen müssen sich trauen, leichte Sprache einzusetzen und Zeit dafür haben, sich damit auseinanderzusetzen. All diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Ich könnte natürlich bei jeder Gelegenheit darauf hinweisen, dass ein für die Publikation geplanter Text eigentlich in leichter Sprache geschrieben werden müsste, dass ich total gut weiß, wie leichte Sprache funktioniert und es auch gerne allen zeige.

Nur: Das würde nichts nützen. Gute Argumente und die eigene Kompetenz reichen nicht aus, um Systeme zu verändern. Menschen ändern ihre Praxis nicht aufgrund von Argumenten und auch nicht, wenn andere Menschen kompetent sind.

Michael Seemann schreibt über die Nerds:

[M]anchmal haben diese Nerds dann auch selbst dieses Bild von sich: Dass sie Dinge verstehen, die andere nicht verstehen, macht sie, wie sie finden, kompetent auf eine gewisse, allgemeine Weise.

Und dann blicken sie auf die Welt, sehen politische Prozesse, sehen die Medienberichterstattung, sehen kriegerische Konflikte, sehen menschliche Interaktion und rufen: „Das ist doch alles ganz klar! So und so einfach ist die Welt!“

Das Ganze hat aber einen Haken. Programmiersprachen sind nicht komplex. Es ist jedem möglich sie innerhalb eines Jahres komplett zu verstehen. Betriebsysteme sind nicht komplex. In jedes Betriebsystem kann man sich relativ schnell einfuchsen, wenn man ein, zwei gesehen hat. […] Und genau hier liegt der Unterschied zur restlichen Welt. Politik ist scheißenochmal komplex. Menschliche Interaktion ist megakomplex und die sich daraus ergebenden Konflikte ebenfalls. Egal wie sehr sich jemand in diese Dinge einfuchst, sie werden niemals restlos verstehbar sein. Die meisten von uns haben sich an diesen Umstand gewöhnt. Er fordert uns jeden Tag eine gewisse Demut ab, eine gewisses Zurückzucken, bevor man Dinge endgültig bewertet.

Und so muss eine Abwägung stattfinden zwischen einer idealen Lösung, die sich nicht umsetzen lässt, und einer pragmatischen, bei der Kompromisse nötig sind.

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Bild: Unsplash, James Pond

3 Kommentare

  1. Christy Walton sagt:

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  2. Maik Riecken sagt:

    Du blendest aus, dass der heute erforderliche Pragmatismus klare Ursachen hat und das die Beurteilung der „Nerd“-Forderungen abermals komplexer ist, als du es hier zu reduzieren versuchst.

    Gesellschaftlich sind Erforderlichkeiten zum Erwerb grundsätzlicher informatischer Grundfertigkeiten vor dem Hintergrund von u.a. UX lange Jahre belächelt und als „unnötig“ geframed worden. Das hat zu zweierlei Entwicklungen geführt:

    a) Die Bewertung möglicher Auswirkungen digitaler Entwicklungen ist ohne grundlegende(!) technische Perspektive m.E. nur sehr begrenzt möglich (beim iPhone wäre es auch damit nicht gegangen, aber das war schon außergewöhnlich …). Heute gilt ja schon der Narrativ, dass eine dem Digitalen innewohnende Eigenschaft wäre. Wie hätte sich das Netz entwickelt, wenn die informatischen Kompetenzen (Nein, das Programmieren gehört nicht oder nur rudimentär dazu) in der gesellschaftlichen Breite mitgewachsen wären? Man kann am Buchdruck sehr hübsch historisch sehen, dass sowas zunächst schiefgeht und erst mit der breiteren Verankerung von Lesen und Schreiben in der Gesellschaft sich ein eine bestimmte, „wünschenswerte“ Entwicklung ergeben hat. Historisch Lernen hätte bedeutet zu erkennen, dass man Basiskompetenzen zur selbstbestimmten Umgang mit einem Leitmedium schon braucht. Mit Blick auf die Entwicklungen in den Wissenschaftsnetzen der ARPA (60er/70er Jahre) hätte man eigentlich schon mehr wissen können – wenn man gewollt hätte. Auch die heute breit abgefeierte reformpädagogische Perspektive findet sich dort in den „Nerdkreisen“ schon sehr früh – z.B. bei Seymour Papert in wiederum den 70er-Jahren.

    b) Man muss sich heute bestehende informatische Systeme für die Emanzipation „zurückerobern“. Das ist einigermaßen schräg. Man kann ohne „Nerdinstrumentarium“ nur bestimmte Dinge sichtbar machen und erkennen, so wie man in einen Elektronenrastermikroskop die Teilchen zur Visualisierung nutzt, deren Eigenschaften man eigentlich erfassen möchte. Dabei bleibt aber einiges – vielleicht sehr Grundlegendes – verborgen.

    Es braucht also zweierlei:
    Die reflektierte (z.B. datensparsame), pragmatische Nutzung von Plattformen und Werkzeugen.
    Den Aufbau von „digitalem Lesen und Schreiben“ aka grundlegenden informatischen Kompetenzen.

  3. Aber… das stimmt doch alles nicht?
    Ganz offensichtlich angefangen bei: „Ich meine das nicht abwertend, sondern als verdichtete Bezeichnung.“
    Zum Rest dann gerne, aber wenn schon das ernst gemeint war, haben wir zu wenig gemeinsame Basis. Du setzt im ersten Absatz „Experte“ mit „Nerd“ gleich, nennst das dann aber, keinesfalls abwertend, doch nicht „Experten-Narrativ“.

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