Das Gymnasium der Zukunft

Letzte Woche habe ich am DigitalDay in Zofingen darüber gesprochen, was die Kultur der Digitalität für das Gymnasium heute und in Zukunft bedeutet. Mit der zentralen Folie – alle Slides gibt es unter phwa.ch/digitalday – wollte ich zeigen, dass die Digitalisierung der humanistischen Bildung im besten Fall Menschen und ihre Gemeinschaften stärkt und Raum für Reflexion und Sinnsuche schafft.

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Im Anschluss wurde ich gefragt, wie das nun konkret geschehen könne. Meine Ausführungen seien interessant, aber sehr vage gewesen.

Deshalb möchte ich in den folgenden Abschnitten konkretisieren, wie ich mir ein Gymnasium in der Zukunft vorstellen könnte. (Mit Gymnasium meine ich die Sekundarstufe II als Vorbereitung auf ein tertiäres Bildungsangebot.)

Die Umsetzung solcher Vorstellungen erachte ich als äußerst schwierig: Als engagierter Lehrer kann ich heute wenig tun, um sie herbeizuführen. Es gibt kaum guten Unterricht im falschen Bildungssystem. Gebe ich Schülerinnen und Schülern heute Freiraum, brauchen sie ihn, um auf die nächste Prüfung zu lernen. Nur wenn Lehrpersonen, Schulleitungen und die Bildungspolitik gemeinsam die Weichen stellen, ist eine visionäre Schule denkbar.

Verständnis der Schule

Dürfte ich ein Gymnasium gestalten, wäre es ein Lernraum für junge Menschen, die vor ihrem Studium viel Zeit dafür aufwenden wollen um zu lernen. Sie werden dabei begleitet und können zeitgemäße Räumlichkeiten und Infrastruktur benutzen.

Selbstverpflichtung und autonomer Umgang mit der Zeit

Stundenpläne und Fächer braucht es dann keine mehr. Auch keine Kontrolle der Anwesenheit, keine Selektion. Die Schule ginge von der elementaren Einsicht aus, dass Menschen immer lernen – egal, was sie tun. Deshalb übergibt sie die Verantwortung fürs Lernen den Schülerinnen und Schülern. Sie bestimmen, womit sie ihre Zeit verbringen möchten. Dabei können sie durchaus Verpflichtungen eingehen, werden aber nicht gezwungen, die Verpflichtungen einzuhalten.

Lernangebote

Dadurch würde Belehrungsunterricht ebenso wegfallen wie Fächer und Stundenpläne. Es wäre denkbar, dass Schülerinnen und Schüler ein halbes Jahr reisen oder auf einem Bauernhof arbeiten, wenn sie das als als Lernerfahrung wichtig fänden. An der Schule gibt es offene Lernangebote – die Schülerinnen und Schüler werden aber auch ermuntert, Lernangebote außerhalb der Schule wahrzunehmen und eigene Lernangebote zu schaffen.

Lernangebote sind vielfältig, z.B.:

  1. Kurse für Sprachen, Malen, Fotografie, Programmieren, Sport etc.
  2. Vorlesungen
  3. Workshops
  4. Diskussionsrunden
  5. Lektürekreise
  6. Arbeitsgruppen
  7. offene Ateliers, Werkstätten, Makerspaces
  8. Bibliotheken, Materialsammlungen, Ausstellungen

Projekte

Die Schülerinnen und Schüler werden bei der Durchführung von Projekten begleitet. Die Schule stellt Projektarbeit als zentrale Lernform ein – der Besuch von Kursen soll dabei helfen, Projekte durchführen zu können.

Projektarbeit wird an der Schule dokumentiert, Ergebnisse werden präsentiert. (Projektpräsentationen sind Lernangebote…)

Kompetenznachweise in einem Portfolio

Es ist denkbar, dass Schülerinnen und Schüler nach Abschluss eines Kurses etc. eine Art Zertifikat erhalten. Sie können auch externe Tests absolvieren, wenn sie das für nötig erachten. Generell aber führen sie ein Lernportfolio, mit die ihre Kompetenzen nachweisen. Wer gut Englisch spricht, zeigt das mit einem Podcast, der mit anderen Interessierten aufgenommen wurde. Wer gerne kreative Texte schreibt, legt im Portfolio die im Netz publizierten Erzählungen ab.

Verantwortung für die Schule

Die Schülerinnen und Schüler beteiligen sich am Unterhalt der Schule. Sie putzen, installieren Technik, organisieren Pausenverpflegung – und schaffen ein kulturelles und soziales Rahmenangebot. Die Schulgemeinschaft leistet auch politische Arbeit, sie entscheidet über wesentliche interne Fragen und definiert sinnvolle Entwicklungsmöglichkeiten für die Schule.

Das Gymnasium ist im Ort oder im Quartier verankert und übernimmt gesellschaftliche Verantwortung. Auch daran sind Schülerinnen und Schüler wesentlich beteiligt.

Die Rolle von Erwachsenen

Wer am Gymnasium der Zukunft arbeitet, begleitet junge Menschen. Erwachsene können Lernangebote anbieten und entwickeln, Lernschritte begleiten, von Projektgruppen beigezogen werden. Sie schlichten auch bei Konflikten und tragen die Rahmenverantwortung für den Schulbetrieb. So stellen sie sich, dass die Jugendlichen auch selber Verantwortung übernehmen können.

Erwachsene qualifizieren sich primär pädagogisch für ihre Aufgabe, von ihnen wird erwartet, dass sie eigene Lernprojekte unterhalten und ihr Lernen an der Schule sichtbar machen. Fixiertes Fachwissen ist weniger wichtig als heute, aber die Schule bemüht sich darum, ausgewiesene Fachleute in verschiedenen Fachgebieten anzustellen.

Räume und Infrastruktur

Die Schule ist zweckmäßig eingerichtet, so dass verschiedene Lernaktivitäten problemlos durchgeführt werden können. Wichtig sind Einzel- und Gruppenarbeitsplätze sowie Lernorte, in denen informelle Treffen beim Kaffee stattfinden können.

Rituale, Abschlüsse und Zertifikate

An der Schule sind gewisse Rituale etabliert, die einen Rhythmus schaffen. Dazu gehört auch eine Form des Schulabschlusses, der aus der Präsentation und Diskussion eines größeren Abschlussprojekts besteht. Zertifikate erwerben die Schülerinnen und Schüler gelöst von der Schule: Sie bereiten sich so auch auf das vor, was an einer Hochschule oder im Beruf von ihnen erwartet wird. Wer eine Fahrausweis braucht, bereitet sich darauf an der Schule vor. Wer eine Numerus-Clausus-Prüfung bestehen muss, lernt dafür an der Schule.

Und die Digitalisierung? 

Im Vordergrund stehen Lernen und Verantwortung. Digitale Kommunikation und digitale Kompetenzen werden in diesem Sinne genutzt und reflektiert. Sie werden selbstverständlich.

Unklar ist, ob die digitale Transformation den zu der hier vorgestellten Vision ebnet. Vielleicht, würde ich 2019 sagen. Vielleicht aber auch nicht…

 

4 Kommentare

  1. Thomas Höhmann sagt:

    Stimmt. Es gibt kaum guten Unterricht im falschen Bildungssystem. Der erste Schritt wäre, innerhalb des Lernortes die Selektion abzuschaffen. Die Lehrer (*,*) sind sonst Helfer und Prüfer in einer Person. Das zerstört das gesamte Vertrauen und verfälscht die Motivation, Fragen an sie zu richten.
    Selektion gibt es im Leben nach der Schule noch genug…

  2. schuleranita sagt:

    So will ich arbeiten, lernen – als Erwachsene, als Pädagogin, als Lerncoach. Und ich wäre glücklich gewesen, hätte ich das zu meiner Schulzeit erleben dürfen!

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