[Rezension] Maryanne Wolf – Schnelles Lesen, langsames Lesen

Um es kurz zu machen: »Schnelles Lesen, langsames Lesen« ist ein ärgerliches Buch, ein anstrengendes Buch, ein dummes Buch. Warum?

Erstens wählt Maryanne Wolf als Form Briefe, die sie als Autorin an mich, den Leser, schreibt. »Liebe Leserin, lieber Leser« steht vor jedem der neun Briefe. Schon an diesen vier Wörtern zeigt sich, dass Wolf die Textsorte Brief nicht versteht. Ein Brief ist ein dialogisches und persönliches Medium. Er ist an mich gerichtet, der ich dann die Möglichkeit habe, einen Antwortbrief zu verfassen. Wolf überreicht mir ein Paket von 250 Seiten, die ich ganz vertieft lesen soll, so dass jeder Satz eine Wirkung auf mich entfalten kann.

Briefe laden zu einer Art Atempause ein, in der wir gemeinsam nachdenken und, wenn wir sehr viel Glück haben, eine besondere Art der Begegnung erleben können […]

Dieses Glück wurde mir – oder »uns« – offenbar nicht zuteil.

Die Briefe sind zweitens eine Zumutung, weil es schlechte Briefe sind. Wolf nutzt sie als Verbindung von launigen Kanon-Zitaten. Hesse, Rilke, John Steinbeck, Marcel Proust und viele mehr haben schlaue Dinge zum Lesen geschrieben; Wolf versucht diese Aussagen alle irgendwie in ihrem Buch unterzubringen, statt den Mut zu haben, ihre eigene Haltung klar (und wirksam) zum Ausdruck zu bringen.

Damit sind wir drittens bei dieser Haltung. Sie ist äußerst widersprüchlich: Wolf nimmt explizit die Rolle der Wissenschaftlerin ein, die etwas erforscht hat – präsentiert dann aber eine Reihe von Vermutung, die sich so lesen:

Dass dieses Geschenk des Abtauchens im Lesen in unserer Kultur möglicherweise bedroht sein könnte, erscheint mehr und mehr Menschen eine begründete Sorge…

Es kann nicht sein, dass wir uns dadurch nicht verändern.

Wolf präsentiert letztlich nichts weiter als eine Befürchtung. Trotz vielen Metaphern, mit denen sie die Funktionsweise des Gehirns zu beschreiben droht, ist ihre These sehr simpel:
Beim Lesen digitaler Texte nimmt unser Gehirn mehrere Reize schneller wahr. Dadurch verändert es sich. Wolf sieht darin einen Verlust.
Diese Befürchtung ist sehr beschränkt, weil Wolf Leseprozesse in digitalen Kontexten gar nicht erst in den Blick nimmt. Sie schreibt mehrmals, Aufmerksamkeit würde »zerstückelt«, blendet aber dabei aus, welche neuartigen Lese- und Lernprozesse im Netz möglich sind. Maik Philipps Buch zu »Lesekompetenz bei multiplen Texten« diskutiert in Abschnitt 4.1 ausführlich, wie wichtig »epistemische Überzeugungen« für die Lesekompetenz sind. Wolfs Haltung, digitale Texte würden auf Gehirne und Lesekompetenz zersetzend wirken, kann so als eine selbsterfüllende Prophezeiung verstanden werden: Wer so denkt, kann gar nie kompetent Netztexte lesen, weil die eigene Überzeugung megakognitiv Lesekompetenz beschränkt.

Wolfs Obsession mit einem belletristischen Kanon blendet aus, dass sich Literatur längst gewandelt hat: Junge Menschen lesen Computerspiele, Instagram-Feeds, YouTube-Kanäle und Serien – und erfahren dabei die kognitiven Prozesse, die mit »Deep Reading« verbunden werden.

Am Schluss des achten Briefs erahnt Wolf einmal, dass ihre Befürchtung, das Hirn könnte sich selber kurzschließen, selbst ein gedanklicher Kurzschluss ist:

Wichtig ist vor allem anderen, dass die Hoffnung für die nächste Generation darin besteht, dass sie im Unterschied zu Ihnen und mir, die wir angefangen haben, unser Leseverhalten zu ändern, und bei denen der digitale Lesestil begonnen hat, auf alles andere auch abzufärben, von Anbeginn an zwei völlig andere Formen des Lesens entwickeln werden, unterschiedliche Modi für unterschiedliche Aufgaben, zwischen denen sie automatisch wechseln werden. Zum Schreiben von E-Mails werden sie zum Beispiel den schnelleren »Light-Modus« verwenden, für kompliziertere Materie werden sie in einen anderen »tiefergehenden« Modus schalten, vielleicht sogar, indem sie den Text ausdrucken! Wenn sich diese Überlegung als realistisch erweist, wird womöglich der Modus, der auch immer gerade vorrangig ist, weniger auf den anderen »abfärben« – und vor allem wird weniger wahrscheinlich, dass der Leseschaltkreis im Gehirn unserer Kinder während seiner Entwicklung kurzgeschlossen wird.

Ja, sehr wahrscheinlich werden Menschen den Medienwandel bewältigen können. Wolf findet ihn einzigartig:

[D]er Übergang von einer auf Lesen und Schreiben fußenden Kultur hin zu einer digitalen [unterscheidet] sich radikal von allen vorangegangenen Übergängen zwischen zwei Kommunikationsformen. Anders als in der Vergangenheit verfügen wir heute aber sowohl über das Wissen als auch über die Technologie, potenzielle Veränderungen unserer Art zu lesen – und damit auch unserer Art zu denken – aufzuzeigen, bevor diese Veränderungen die Menschheit völlig durchdrungen haben und ohne Überdenken der Konsequenzen akzeptiert worden sind.

Im Verlauf des Buches zeigt sich aber, dass sie – anders als Kahneman, auf den sich der Titel mit einem seltsamen Missverständnis bezieht – sowohl technologisch wie kognitionspsychologisch im Dunklen tappt. Ihre Behauptung, als Wissenschaftlerin Antworten anbieten zu können, erweist sich als leeres Versprechen, von dem nur eine dumpfe, subjektive Befürchtung bleibt.

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