Rezension: »The Social Photo«

Nathan Jurgenson ist für mich neben Boyd, Tufecki und Passig eine der wichtigsten Stimmen, wenn es darum geht, die Digitalisierung nicht technologisch, sondern gesellschaftlich und politisch einzuordnen. Er hat den Begriff »Digitaler Dualismus« geprägt, der die Vorstellung bezeichnet, digitale Vorgänge bildeten einen Gegensatz zu realen Vorgängen, sie seien virtuell, während es sich um Kommunikationsformen handelt, die von ihrer Medialität und Realität her nicht per se von einem Gespräch, einem Anruf oder einem Brief zu unterscheiden sind.

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Nun hat Jurgenson ein Buch über »The Social Photo« geschrieben. Es ist ein dreiteiliger Essay über die Frage, wie Fotografien in einer Kultur der Digitalität funktionieren, was ihre Bedeutung auf »Social Media«-Plattformen ist. Jurgenson definiert »Social Photo« wie folgt:

The vast majority of photos perform functions distinct from those of documentation or art. The quick selfie reaction, the instantly posted snapshot of nice sunlight on your block, the photo of a burger sent to a friend: these kinds of images are of central importance to photography as it occurs today, but they are not as well conceptualized or understood. […] The term “social photo” can be limiting because all photos are social in a sense (a critique equally applicable to the term “social media”). My interest here is with a type of photography made ubiquitous by networked, digital sharing, though many of its characteristics can be found in different degrees in pre-social media photography, especially amateur snapshots (Polaroid sharing in particular). For my purposes here, what fundamentally makes a photo a social photo is the degree to which its existence as a stand-alone media object is subordinate to its existence as a unit of communication. (Kindle Pos. 147ff.)

Ein Schlüsselsatz in Jurgensons Argumentation lautet:

Social media is real life partly because real life is always mediated through the logics and technologies of human habit, interest, power, and resistance. (Pos. 687)

Sein Essay geht aus von der Beobachtung, dass die Verbreitung von digitalen Bildern im Netz stark nostalgisch gefärbt war: Mit Filtern wurde auf Hipstamatic und Instagram suggeriert, digitale Bilder seien alt und analog aufgenommen worden – obwohl völlig klar war, dass so lediglich eine Simulation von »Vintage« erreichbar war. Niemand hielt die Bilder für wirklich alt. Sie waren ein Übergangsphänomen, das eine imaginierte Vergangenheit mit einer digitalen Zukunft (in der digitale Bilder sich nicht als alte ausgeben müssen) verband (Pos. 106).

Die Analyse dieser Nostalgie ist Kernstück des ersten Teils des Buches, in dem es um die Frage geht, welche Rolle digitale Bilder bei der Dokumentation des Lebens und der Kommunikation zwischen einnehmen. Jurgenson legt Wert darauf, »social photos« von einem künstlerischen oder kunsthistorischen Kontext zu trennen und sie als »Zertifikat einer Präsenz« (Roland Barthes, Camera Lucida) zu sehen: »Hier war ich, das habe ich gemacht« ist die Botschaft des »social photo« (»I was there, I did that«, Pos. 625).

Im zweiten Teil – »Real Life« – geht es um die Frage, welche Vorstellung von Identität in digitalen Fotografien aufscheint.

Social media also make obvious how identity is to some degree performed rather than revealed in uncalculated bursts of authenticity. […] The social photo may best illustrate this kind of identity work. The self—that feeling that you are you and not someone else—is a story you tell yourself to connect the person you once were to who you are now to who you will become. Photography plays an integral role in linking the self over time. (Pos. 852f.)

Jurgensons zentraler Fokus in diesem Teil ist die Einsicht der Moderne, dass es keinen authentischen Kern einer Person gibt, weil sie ihre Identität vielmehr inszeniert, durch ihre Handlungen erprobt und durch soziale Interaktionen beweist. Deshalb verändert sich die Identität laufend. Digitale Bilder machen das wahrnehmbar – und sind deshalb Fokus der Kritik. Diese ist mehrschichtig: Erstens wendet sie bestehende soziale Hierarchien auf digitale Ausdrucksformen an und entwertet entsprechend die medialen Handlungen von Jugendlichen, Frauen und POCs. Zweitens versucht sie die Vorstellung zu bewahren, jede Person habe ein von Inszenierung unabhängiges, authentisches Wesen. Das gelingt der Kritik aber nur dialektisch: Sie kann nicht direkt ausdrücken, was denn das Authentische ist, sie kann nur wiederholen, dass es auf keinen Fall online oder digital ist.

Paradoxerweise kann die Forderung, ein Mensch müsse möglichst oft »in the moment« sein und Erfahrungen machen, ohne diese medial zu dokumentieren, nur eingelöst werden, indem über Erfahrungen gesprochen wird. So zeigt sich, dass für Menschen Erfahrungen nicht ohne das Bewusstsein zu haben sind, gerade eine Erfahrung zu machen. Und dieses Bewusstsein führt zum Bedürfnis, über die Erfahrung zu sprechen, sie darzustellen.

It’s therefore useless to worry about being fully in or out of the moment in absolute terms. Photos are taken and shared in part to confirm the reality of our own lives to others and ourselves—to confirm that we have had moments, irrespective of the degree to which we were immersed in them. (Pos. 1257)

Diese Argumentation führt in Jurgensons Essay zu einer ausführlichen und differenzierten Kritik der Social-Media-Kritik und von Bewegungen wie Digital Detox. Versuchen Menschen zunehmen, nicht-digitale Erfahrungen zu machen, so zeigt gerade das Schreiben über diese Erfahrungen, weshalb »social photos« wichtig sind: Weil auch der Verzicht auf »Social Media« ans Bedürfnis gekoppelt ist, diesen Verzicht zu inszenieren und ihn anderen mitzuteilen.

Rather than forgetting about the offline, we have collectively become obsessed with it. The existence of so much disconnectionist punditry demonstrates that we have never appreciated a solitary stroll, a camping trip, a face-to-face chat with friends, or even simple boredom more than we do now. Indeed, many of us have always been quite happy to occasionally log off and appreciate stretches of boredom, ponder printed books, walk sans camera—even though books themselves were also once regarded as a deleterious distraction from real presence as they became more prevalent. But our immense self-satisfaction in disconnection is new. (Pos. 1053)

Im dritten Teil des Essays umreisst Jurgenson als Coda kurz die Implikation von »social videos« und vergleicht sie mit digitalen Bildern.

* * *

Obwohl ich die Gedankengänge und die Kritik Jurgensons von seinen Blogtexten schon kannte, war die Lektüre seines Buches erhellend. Ich habe fast in jedem Abschnitt einen Satz angestrichen – er versteht es, mit einfachen Wort auf den Punkt zu kommen. Ich hätte mir mehr Abschnitte gewünscht, eine stärkere Struktur der großen Teile, um von Anfang an eine Orientierung zu haben. Obwohl der Bogen der Argumentation sehr einleuchtend ist, sind gewisse Übergänge eher unvermittelt – so spricht er im zweiten Teil ausführlich über die Ethik von »Street-Photography«, die für Smartphonebilder von hoher Relevanz ist – aber ein direkter Zusammenhang mit der Reflexion von Identität und digitalen Bildern ist nicht gegeben.

Das tut aber der Bedeutung dieses Buches keinen Abbruch. Jurgenson versteht es, hinter den moralisch aufgeladenen Diskurs über digitale Praktiken zu blicken und mit erhellenden Einsichten aus der Geschichte der Fotografie eine multiperspektivische Analyse aktueller Social-Media-Praktiken zu schreiben.

(Ich habe das Buch gekauft und die Rezension aus Interesse geschrieben. Gerne bespreche ich das Buch auch für eine Zeitung oder Zeitschrift.) 

Bildergebnis für social photography jurgenson

1 Kommentar

  1. Eva sagt:

    Vielen Dank für die Rezension; sie war für mich sehr informativ und hat mich motiviert, die Essays auch zu lesen.

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