»deep work« und »shallow work« – hilfreiche Begriffe für die Steuerung der Aufmerksamkeit

Vor einem Jahr habe ich mich intensiv damit beschäftigt, wie digitale Kommunikation Aufmerksamkeit beeinflusst. Meine zentralen Einsichten waren, dass Angebote im Netz viele Anreize für unsere Aufmerksamkeit schaffen. Diese Anreize sind an Verfahren der Glücksspielindustrie angelehnt, die uns ständig suggerieren, es gebe etwas zu erleben, obwohl wir uns nur von Video zu Video durchs Netz klicken. Empty-Fridge-Syndrome: Wir öffnen den Kühlschrank immer wieder, auch wenn wir wissen, wie leer er ist. Diese Aufmerksamkeitsstrukturen prägen wir uns ein, wir gewöhnen uns daran: Und übertragen die damit verbundenen Erwartungen auf andere Settings. Schule und Romane sind im Vergleich mit Games und Netflix langweilig, weil sie nicht dieselben Anreize für unsere Aufmerksamkeit schaffen (können).

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Rose Wong für NYT

Das Konzept von »deep work«, das Cal Newport 2017 in einem Buch entwickelt hat, hilft dabei, den Fallen der Aufmerksamkeitsökonomie zu entgehen. Newport bezeichnet mit »deep work« die Fähigkeit, sich ohne Ablenkung auf eine anspruchsvolle Aufgabe zu konzentrieren. Das klingt ähnlich wie Konzentration, welche jedoch häufig unabhängig von der Komplexität einer Aufgabe verstanden wird. Für einfache Routineaufgabe verwendet Newport den Begriff »shallow work«.

Um zufrieden arbeiten zu können, fordert der Autor bewusste Phasen von »deep work« und eine Effizienzsteigerung bei »shallow work«. Das ist nachvollziehbar: Arbeitstage, an denen wir versucht haben, uns anspruchsvollen Aufgaben zuzuwenden, aber stundenlang oberflächliche Leistungen erbracht haben, sind belastend und unbefriedigend. Newport bietet vier Tipps an:

  1. »deep work« planen und im Kalender eintragen, sich dafür Zeit nehmen und sich nicht wünschen, dass man bald einmal viel Zeit hat, um »deep work« angehen zu können.
  2. Sich langweilen lassen, um das Gehirn daran zu hindern, sich ständig ablenken lassen zu wollen.
  3. Verzicht auf Social Media.
  4. Wenig Zeit für »shallow work« aufwenden.

Die Logik hinter Newports Argumentation: Sobald wir unsere Aufmerksamkeit von dem, was wir gerade tun, auf etwas anderes umlenken, geht ein Teil davon verloren, wir ermüden und die Konzentration bricht ein – der nächste Unterbruch wird wahrscheinlicher.

Für mich ist besonders Regel 1 wichtig: Gelingt es mir, mich nicht einfach mal an den Computer zu setzen und mich treiben zu lassen, sondern mir vorzunehmen, bewusst zwei Stunden lang zu korrigieren oder einen Text zu schreiben, dann bin ich zufriedener und effizienter.

Gleichzeitig bin ich aber skeptisch, was die Gefahr der Ablenkung und die von Social Media anbelangt. Der Wechsel der Aufmerksamkeit ist nicht nur eine Belastung, er hat dient mir auch dazu, mir über meine Prioritäten und meine Planung Gedanken zu machen. Er bietet eine Lösung für ein Problem an, das sich mit noch mehr Konzentration nicht lösen ließe. Auch Langeweile ist aus meiner Sicht ein Trugschluss: Menschen meiden Langweile aus einem Grund. Klar: Eine Straßenbahnfahrt lang nicht aufs Smartphone zu sehen, sondern zu sich zu kommen und aus dem Fenster zu gucken – das kann gut tun und konzentrierteres Arbeiten erlauben. Aber dabei handelt es sich nicht um Langweile.

Ein Zitat von Newport hat mich besonders beeindruckt – da stimme ich ihm zu:

When it comes to topics like distraction in the workplace, my philosophy is that instead of focusing too much on what’s bad about distractions, it’s important to step back and remember what’s so valuable about its opposite. Concentration is like a super power in most knowledge work pursuits. If you take the time to cultivate this power, you’ll never look back.

 

2 Kommentare

  1. Avatar von mebîmabo mebîmabo sagt:

    Ey Philippe, dieser Beitrag damals im Jahr 2019 hat mich stark inspiriert!

    Heute KI?!? Verändert alles 🙂

    Ist die Unterscheidung zwischen Deep Work und Shallow Work nach wie vor eine essenzielle Grundlage für die Steuerung der eigenen Aufmerksamkeit und Produktivität?

    Ich persönlich, der ja sowieso nie in der Lage war, mit Deep Work zu performen, habe nun das Gefühl, ich hätte endlich ein paar Deep Worker, die für mich arbeiten und ich geniesse total den Shallow Work Flow, arbeite deutlich mehr als noch vor der KI-Zeit…

    Also konkret: Ich würde mir wünschen, die Diskussion über Deep Work und Shallow Work in einem Update-Beitrag im Kontext der künstlichen Intelligenz nochmals aufzurollen. KI-Tools haben die letzten paar Jahre die Arbeitswelt fundamental verändert, und das hat direkte Auswirkungen auf die Kategorisierung und Ausführung unserer Aufgaben, oder etwa nicht?

    Die zentrale Frage, die sich mir stellt:

    KI-Tools sind heute in der Lage, einen Grossteil der Shallow Work – einfache Entwürfe, Datensammlung, Routine-E-Mails – zu übernehmen. Das müsste theoretisch mehr Kapazität für Deep Work freisetzen?

    Aber ergibt diese Kategorisierung überhaupt noch Sinn?

    Wandelt sich durch KI nicht auch die Definition von Deep Work? Zählen beispielsweise komplexe Codegenerierung oder wissenschaftliche Literaturanalyse noch als tiefgründig, wenn die KI sowohl die ersten Inspirationen liefert als auch den Feinschliff erledigt?

    Oder führt die ständige Interaktion mit den KI-Tools (Prompt-Optimierung, Faktenprüfung des Outputs) einfach zu einer neuen Form von Shallow Work?

    Die «Shallow Worker» hieven sich dank KI aufs Podest neben die «Deep Worker»?

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