Narzisstische Bedürftigkeit der Lehrkräfte: […] Die Lehrkraft […] stellt sich dar wie ein Schauspieler, der die Bühne braucht und seine Zuschauer. […] Die Schüler und Schülerinnen sind begeistert von mir, sie haben mich alle gemeinsam erlebt.
Dieses Zitat aus Gudjons Standardwerk »Frontalunterricht neu entdeckt« (3. Auflage 2011, S. 34) stammt aus einer Passage, in welcher der Autor verbreitete Einwände gegen die Didaktik des Frontalunterrichts prüft. Später rehabilitiert er den Frontalunterricht durch eine präzise Bestimmung seiner didaktischen Funktion und seiner methodischen Möglichkeiten.
Die »narzisstische Bedürftigkeit« trifft nicht nur ein hochaktuelles Thema, sondern auch eine Beobachtung, die ein Fachdidaktik-Student beim Besuch einer Deutschstunde notiert hat:
Am meisten beeindruckte mich aber, dass mich der Lehrer danach fragte, was er hätte besser machen können. Ich musste ein Weilchen überlegen und antwortete ihm, dass er mir so ein bisschen vorgekommen sei wie ein Turm des Wissens im Klassenzimmer. Und dass seine Schülerinnen und Schüler womöglich eine Spur zu viel Respekt davor hätten, diesen Turm intellektuell anzugreifen oder gar einzunehmen – worum er ja gebeten habe. Er könnte ja vielleicht versuchen, bewusst ein paar Breschen in diesen Turm zu hauen, um eine kontroversere Diskussion zu fördern. Der Lehrer war dankbar für die Anregung.
Ich fühlte mich persönlich bei der Lektüre ertappt. Die paradoxe Aufforderung an Schülerinnen und Schüler, Kritik zu üben, kenne ich genau so wie die Konstruktion des Turm. Sie funktioniert auf verschiedenen Ebenen. Folgende kenne ich als eigene Verfahren:
- Unsicherheiten gekonnt überspielen und Halbwissen als Wissen verkaufen, wie ich das hier ausführlicher als Strategie im Umgang mit Unsicherheit beschreiben habe.
- Bei Fragen noch etwas weiter ausholen, als nötig wäre, und eine große Denkbewegung vorführen, gegen welche die Frage dann abfällt.
- Beiläufig auf einen Film, ein Sachbuch, einen Roman, eine Theorie etc. verweisen, die ganz gut zum Thema passen, aber wenig mehr sind als das Hochziehen einer weiteren Zinne auf dem Turm.
- Auf eine Metaebene wechseln und so tun, als ginge einen den Unterricht/die Schule/die soziale Situation eigentlich gar nichts an, als stünde man auf einer neutralen Position darüber.
Was muss man sich also unter dem Vorschlag vorstellen, eine Bresche in den Turm zu schlagen? Dazu hat ein Kollege in einem Forum zum Thema selbstorientiertes Lernen folgende Anregung für den Feedbackprozess formuliert:
Ich würde mir vornehmen, meiner eigenen Wahrnehmung nicht so recht zu trauen (es könnte auch ganz anders sein) und somit ausschliesslich versuchen, zu fragen und zuzuhören (und was noch? Und was noch?). Dabei würde ich wie verrückt nach Ressource und Stärken suchen und diese dem Gegenüber spiegeln.
Würde heißen: Ich muss mich gar nicht als Antwortenden verstehen, sondern als Begleiter bei der Suche nach Antworten und für die Lernenden stimmigen Antworten. Das ist ein radikaler Schnitt (und wohl der richtige).
Bei mir funktioniert auch die Strategie, Settings zu schaffen, in denen Meinungen ausgetauscht werden. An denen nehme ich teil, wenn andere sie leiten. Ich bin dann eine Person mit einer Meinung, nicht der Lehrer. Rollenwechsel versuche ich zu vermeiden, Antworten muss nicht ich geben, weil ja andere moderieren.
Zudem kann das gemeinsame Suchen nach Antworten (»ich habe das gefunden, was hast du gefunden?«) ein Verfahren sein, das zeigt, dass man selber wie alle mit Wasser kocht und keinen Turm bewohnt.
Einfach ist es aber nicht – weil schon der Reflex, großzügig eine Antwort in der nächsten Stunde anzubieten, eine Art Rückzug in den Turm darstellt: man stellt dann als Lehrkraft nicht Fachwissen aus, sondern methodische Souveränität.
Im Netz ist das Problem genauso vorhanden: Wie vermeide ich, übermässige Souveränität auszustrahlen, meine Sicht darzustellen, ohne andere abzuwehren, mich zurückzuziehen? Nicht immer ganz einfach.

Gefällt mir! Und ich frage mich jetzt – gerade weil ich Gallin und dich als „berührbare“ Menschen kennen gelernt habe, deren Turmhaftigkeit in den Hintergrund tritt zugunsten der Begegnung im Unterricht – also: ich frage mich, ob die Bereitschaft, Breschen zu schlagen, vor allem mit der Person zu tun hat und weniger mit dem Fach? – Ich merke: Dein Posting regt mich zum weiteren Nachdenken an.
Gut so!
Was der Student feststellt, was du kennst aus eigener Erfahrung, kenne auch ich aus meinen Lehrerjahren. Natürlich. Was du vorschlägst an Methoden, „Breschen in den Turm zu schlagen“, finde ich sinnvoll. Trotzdem: Es sind Vorschläge, die vermutlich gut für den Deutsch-Unterricht passen, jedoch kaum für naturwissenschaftliche Fächer. Ich habe – als interessierter Kollege – viele Physikstunden als Gast besucht; es gab keine einzige, in der die Lehrperson nicht Turm gewesen und geblieben wäre. Das habe ich als Gymnasiast seinerzeit ebenso erlebt: Naturwissenschafter und Mathematiker (damals waren es nur Männer) standen immer als unerschütterliche Türme in der Brandung unseres Nichtwissens. Das ist – zumindest aus der Sicht der SuS – vermutlich bis heute so geblieben. Offenbar wirken Deutschlehrkräfte, vielleicht Geisteswissenschafter allgemein, berührbarer, erschütterbarer als Naturwissenschafter? Ich kann ein Brecht-Gedicht als Schüler schlecht gemacht finden, man kann über die Bedeutung des Hamlet-Monologs verschiedener Ansicht sein, man darf Flaubert (als Schüler) langweilig, ja: unlesbar finden – all das ist erlaubt. Über den 2. Hauptsatz der Thermodynamik lässt sich jedoch nicht diskutieren, die Gravitationsgesetze gelten, und eine Parabel ist und bleibt eine Parabel. Natürlich können auch Naturwissenschafts-Lehrpersonen „Begleiter bei der Suche nach Antworten“ sein, nicht aber „für die Lernenden stimmigen Antworten.“ Wie sollen SuS eine Bresche in einen „Physik-Wissens-Turm“ schlagen?
Eine wunderbare Aufgabe für Lehramts-Studierende in Nat’wissenschaften: Wie können wir unsere Turmhaftigkeit abbauen?
Du hast doch auch Mathematik studiert – würdest du als M-Lehrer die selben Vorschläge machen? Kann man da „kontrovers“ diskutieren?
Ich denke, das geht schon – sobald man sich an Probleme heranwagt und nicht bei Methoden stehen bleibt. Das war zumindest der Kern der Mathematik-Didaktik, wie ich sie bei Peter Gallin erfahren konnte. Es ging oft darum, etwas zu sehen, zu erproben, einen Einfall zu haben (Gallin sprach von »Würfen«). Das habe ich mit Bez-Klassen erfolgreich ausprobiert und oft Breschen bei mir gefunden (gezeigt habe ich sie wohl etwas weniger).
Das würde natürlich heißen, dass der Unterricht immer in der Zone sein muss, wo ich als Lehrperson keinen ganz festen Boden mehr unter den Füßen habe. Da trauen sich viele nicht hin, leider.
Gefällt mir! Und ich frage mich jetzt – gerade weil ich Gallin und dich als „berührbare“ Menschen kennen gelernt habe, deren Turmhaftigkeit in den Hintergrund tritt zugunsten der Begegnung im Unterricht – also: ich frage mich, ob die Bereitschaft, Breschen zu schlagen, vor allem mit der Person zu tun hat und weniger mit dem Fach? – Ich merke: Dein Posting regt mich zum weiteren Nachdenken an.
Gut so!