Mein letzter Blogpost enthielt folgende Bemerkung:
Die Haltung, Eltern müssten Kinder vor digitaler Kommunikation schützen und hätten ein absolutes Recht zu entscheiden, in welchem Alter ihre Kinder den Zugang dazu erhalten, halte ich für eine esoterische Position. Man sollte Eltern, die sie vertreten, ähnlich behandeln wie die, welche Kinder daran hindern wollen, den Schwimmunterricht zu besuchen oder wissenschaftliche Einsichten nachvollziehen zu können.
Weil ich im Blogpost dafür argumentiert habe, dass Schulen die Benutzung von WhatsApp wie die Benutzung bestimmter Bücher einfach voraussetzen könnten, wurde der Abschnitt schnell so gelesen, ich tue jede Kritik an WhatsApp als esoterisch ab. In den Kommentaren habe ich dann diese Verkürzung auch selbst argumentativ verwendet:
Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, dass WhatsApp für Terminvereinbarung, Dokumentation von Erlebnissen und informelle Kommunikation Standard ist. Einige Menschen halten sich nicht an diesen Konsens, die meisten schon. Esoterisch ist die Position, die sagt, Kinder sollten sich diesem gesellschaftlichen Konsens verweigern.
Axel Krommer hat mein Argument kritisch zerlegt:
Das Problem liegt in einem Fehlschluss. Denn man darf nicht von
„X ist gesellschaftlicher Konsens“ auf „Wer X ablehnt, ist esoterisch und seine Position muss man nicht ernst nehmen“ schließen, wie es der Text impliziert.
Denn es kann gute Gründe geben, sich dem Konsens zu widersetzen. Morgen könnte es gesellschaftlicher Konsens sein, Katzenbabys zu ertränken. Doch daraus dass das Ertränken von Katzenbabys gesellschaftlicher Konsens ist, folgt nicht, dass Menschen, die keine Katzenbabys ertränken wollen, esoterisch sind. Im Gegenteil.
Deshalb braucht es wohl eine Präzisierung, die ich der Einfachheit halber etwas gliedere:
- Ich halte nicht jede Kritik an WhatsApp für esoterisch. Mir ist bewusst, dass WhatsApp in Bezug auf Datenschutz viele Probleme aufweist, die insbesondere darin liegen, dass Daten von Mobiltelefonen mit anderen Daten verknüpft werden (z.B. werden über WhatsApp Nummern an Facebook übermittelt, welche bestimmte User nicht mit FB teilen möchten).
- Ideal wäre es, es gäbe eine mobile App, die keine Datenschutzprobleme aufweist. Nur: Es gibt keine Smartphones ohne Datenschutzprobleme. Es gibt keine Internetnutzung ohne Datenschutzprobleme. Es gibt keine Aktivität in der westlichen Welt ohne Datenschutzprobleme. Das heißt argumentativ nicht, dass sich Widerstand nicht lohnt: Nur muss er meiner Meinung nach nicht Lernenden oder generell Individuen aufgebürdet werden, die einfach vereinbaren wollen, ob sie das schwere Mathebuch morgen zum Unterricht mitnehmen müssen oder nicht – sondern er muss auf politischer Ebene umgesetzt werden.
- Wenn also Schulen bessere Chat-Apps einführen wollen, begeistert mich das. Ich denke aber aufgrund meiner Erfahrung, dass der Rückgriff auf einen gesellschaftlichen Standard vieles einfacher macht. Und mit einfacher meine ich nicht eine Arbeitsentlastung für Lehrkräfte, sondern Inklusion: Wer Hürden aufstellt, verliert immer einen Teil der Schülerinnen und Schüler. WhatsApp können alle und nutzen alle. Das Jabber/IrC2058-Protokoll nicht. Und die, welche es nicht begreifen, erhalten wichtige Informationen nicht.
- Schulen können Standards etablieren, die von lebensweltlichen Praktiken Jugendlicher abweichen. Die Frage ist aber: Zu welchem Preis und mit welchem Nutzen? In dieser Frage halte ich den Preis für sehr konkret, den Nutzen für total abstrakt. Deshalb mein Plädoyer für WhatsApp.
- Diese vernünftigen Kritikpunkte – und das ist mein zentraler Punkt – werden von vielen Menschen aus esoterischen Gründen angeführt. Der eine Schüler meiner Klasse, der WhatsApp nicht benutzt, und die wenigen Lehrkräfte meiner Schule, welche die App nicht nutzen, tun das nicht, weil sie Datenschutzfachleute sind, sondern weil sie den Eindruck haben, ein wahreres, gesünderes Leben zu führen ohne ein Smartphone oder ohne diese App.
- Mein Argument umfasst eigentlich drei Teile:
a) Geeignete digitale Lernmittel können problemlos an Schulen verwendet werden.
b) Wenn es dabei rechtliche Probleme gibt, muss eher das Recht angepasst werden als die Pädagogik.
c) WhatsApp bringt das auf den Punkt. - WhatsApp ist in Bezug auf digitale Kommunikation gesellschaftlicher Standard und Konsens. Mein Argument sagt nicht, alles, was einen Konsens verletzt, ist esoterisch: Sondern alles, was sich einem kommunikativen Konsens widersetzt, ist esoterisch. Ich hatte vor einigen Jahren eine Schülerin, die mir gesagt hat, sie lese keine Bücher, also könne ich nicht von ihr verlangen, einen Roman zu lesen. Ihre Mutter hat das bestätigt: Ihre Tochter würde nicht lesen, warum ich das von ihr verlangen wolle. Ob es vernünftige Gründe dafür gibt, nicht zu lesen, weiß ich nicht. Ich weiß nur: Ohne Lesen kann man keine Schule besuchen. Genau so kann man das ohne Smartphone bald nicht mehr. Wenn Schulen hier den Wechsel machen, dann wird die Position, dass Kinder keine Smartphones verwenden würden, esoterisch, weil man sich damit aus einem kommunikativen Konsens entzieht, der dazu führt, dass man andere nicht mehr hört. Auf welchem Kanal man mit anderen spricht, ist aus meiner Sicht keine ethische Frage – daher impliziert mein Argument nicht, man würde Katzen ertränken müssen, wenn das alle tun würden. Aber wer will schon Katzen ertränken.
Versuchen wir das mit dem argumentatorisch nochmal:
„2.[…] Es gibt keine Smartphones ohne Datenschutzprobleme. Es gibt keine Internetnutzung ohne Datenschutzprobleme. Es gibt keine Aktivität in der westlichen Welt ohne Datenschutzprobleme.[..]“
Letzteres ist Schwachsinn, aber davon abgesehen:
Auf eine Rennstrecke rennen birgt Unfallrisiken, aber am Straßenverkehr teilnehmen birgt auch Unfallrisiken. Überhaupt selbst im eigenen Haus passieren sehr viele Unfälle.
Beides relativiert ohne Bezug auf tatsächliche Problematiken einzugehen. das beliebte slippery slope Argument nur mal anders benutzt.
zu 3.
Faulheit und Dummheit sind also legitime Gründe etwas zu verweigern, Datenschutzbestimmungen etc nicht?
zu 4.
Ohne eine Einordnung/Abwägung ist dies kaum ein Argument.
zu 6.
Sie schließen aus a auf b. Ich zB würden ihnen widersprechen bei WA ist ein geeignetes digitales Lehrmittel.
zu 7.
In ihrer Wahrnehmung. Von sich und seinem Umfeld auf das generelle zu schließen ist gefährlich. In den Jugendgruppen meiner Frau wird WA, Threema, Instagram, Tinder (ja man kann damit auch nur chatten) und FB benutzt. In meinem IT-Umfeld WA höchstens mal wg der „idiotischen“ Freunde.
Sonnige Grüße,
Felix R
PS: Jabber kann fast jeder. Zum beispiel liegt xmpp (wie jabber heutzutage heißt) auch fbchat und wa zugrunde. Nur kommen sie nicht an deren Server 😉
Entscheidend ist für mich einzig, solcherart zu kommunizieren, als die Welt mehr ist als WhatsApp.
Es gibt Kommunikationsformen, die wesentlich weniger Privacy-Probleme haben als whatsapp: z.B. email bei einem Anbieter, der sich keine Lizenz geben lässt, die Mails inhaltlich auszuwerten und die verwendeten Adressen kommerziellen Zweit- und Drittnutzungen zuzufügen, oder SMS in einem Schweizer Netz. Diese Kommunikationsformen sind keineswegs esoterisch. Die Datenschutz-Unterschiede sind relevant, und es würde durchaus zu den sinnvollen Lerninhalten im Umgang mit sozialen Medien gehören, sie zu kennen und auch anzuwenden.
Ich find‘ den Einwand von Axel Krommer sehr gut. Das Problem sind Lehrer/innen, die unbedingt hip sein wollen und sich dabei nicht über ihre eigene Facebook- und WhatsApp-Bubble hinausbewegen. Der gesellschaftliche Standard von WhatsApp ist in meinem Bekanntenkreis nicht vorhanden, obwohl alle jung sind und ein Smartphone haben. Nur weil man selbst es so wahrnimmt, muss es nicht Realität sein. WhatsApp habe ich zwar mal installiert, aber gleich wieder runtergeschmissen, als ich gemerkt habe, dass es meinen Akku aussaugt. Außerdem hat es mein mobiles Internet nachts angestellt. Abends habe ich das Wlan nämlich automatisch ausgeschaltet. Signal ist wirklich eine einfach zu verstehende Alternative, die nicht nur plattformübergreifend ist, sondern auch SMS zulässt. Damit schließt man dann keine SuS aus. Dass WA Standard wird, hat ja vielleicht auch mit der Vorbildfunktion des Lehrers und den daraus entstehendem Gruppendruck zu tun. Außerdem entsteht durch WA der Druck, dass man immer sofort und immer schneller antworten muss – was nicht mit einem Anstieg an qualitativem Austausch gleichzusetzen ist. Ich kenne Lehrer/innen, die von der Kommunikation schon ausgebrannt sind. Vielleicht wollen die SuS ja gar nicht so „eng“ mit den Lehrenden sein. Aus diesem Grund verlassen viele Jugendliche ja auch Facebook. Außerdem stellt sich hier die Frage von Aufwand und Nutzen. Wenn es um einfache Vereinbarungen wie das Mitbringen eines Mathe-Buchs geht, warum muss das in Echtzeit-Kommunikation passieren? Eine einfache E-Mail würde da auch reichen oder eine Ansage in der Unterrichtsstunde. Wie haben das die Lehrer/innen vor 20 Jahren gemacht? Wer als Lehrer/in zu faul ist, sinnvolle Alternativen auszuprobieren, gehört zu den Late Adoptern.
Gerade hinsichtlich der Medienbildung sollte Schule nicht einfach einen hinsichtlich Datenschutz problematischen Konsens festigen sondern für alternativen sensibilisieren und die eigene Mediennutzung kritisch reflektieren. Und Alternativen zu Whatsapp die Kommunikation Ende-zu-Ende Verschlüsseln gibt es viele und sie sind genau so leicht zu bedienen, eine Auswahl: Threema, Hoccer, Signal. Ein kritischere Umgang mit Medien sollte sich sowohl im Schulprogramm als auch im Unterricht niederschlagen.
Gibt es mit WhatsApp tatsächlich ein Datenschutzproblem? Falls ja, her damit! Man kann sich vieles ausdenken, aber ich habe noch nie gehört, dass jemand mit WhatsApp tatsächlich ein Datenschutzproblem hatte.
Eher ein Problem für Schulen: WhatsApp darf man eigentlich erst ab 16 nutzen.
Facebook: Bislang scheinen noch keine Daten geteilt zu werden, die entsprechende Funktion ist erst in Vor-Versionen von WhatsApp als Option aufgetaucht.
WhatsApp schickt halt alle Telefonnummern regelmäßig zum Server, um zu prüfen wer den Dienst noch benutzt und wer nicht. Die Datenschutzerklärung von WhatsApp ist nicht sehr ausführlich, was mit den Telefonnummern passiert, die nicht gefunden werden, werden sie gelöscht, werden sie gespeichert.
Zu dem Prozess gibt es wohl auch keine wirkliche Alternative, außer du willst zurück zum Sammeln von Benutzernamen wie früher. Der Macher von Signal hat dazu mal seine Ideen beschrieben und welche Schwierigkeiten sie machen: https://whispersystems.org/blog/contact-discovery/
Dann wird noch auf die umfangreichen Rechte hingewiesen, die z.B. die Android-Version von WhatsApp verlangt, wobei natürlich übersehen wird, dass es diese Rechte braucht um, entsprechende Dinge an meine Kontakte zu senden.
P.S. Immerhin arbeitet WhatsApp an einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, leider weiß ich nicht wo diese jetzt schon funktioniert, mein letzter Stand war: Textnachrichten zwischen Android-Clients.
Bedenklicher als Datenschutzbedenken fände ich an WA, dass die Schule damit für die ‚dienstliche Kommunikation‘ einen bestimmten privaten Anbieter und sein proprietäres Nachrichtenprotokoll vorgeben würde.
Um so weniger verstehe ich, warum man von einer WA-„Pflicht“ spricht, statt von der Option WA, wobei das dezentrale, nicht-proprietäre System E-Mail beibehalten wird.
Mal eine dumme Frage von einem Nicht-Pädagogen:
Geht es etwa bei der ganzen Sache um solche banalen Dinge, nicht etwa offizielle Kommunikation der Schule etc.? Dann wundert mich, dass das überhaupt reguliert und mit den Eltern besprochen wird. Können nicht die Lehrerinnen und Lehrer für solche Fälle einfach sagen: Wenn ihr mich für Nachfragen erreichen wollt, hier ist mein WA-Kontakt, hier ist meine Emailadresse, macht es, wie es euch passt?
Das geht zumindest in Deutschland nicht. Kanäle wie whatsapp oder Facebook accounts ( war auch mal eine Weile „in“) wurden für „dienstliche“ Kommunikation zwischen Lehrern und Schülern (zumindest in meinem Bundesland) untersagt, nachdem es Beschwerden von Eltern gegeben hatte. Die Argumentation: das würde solchen Schülern einen unfairen Informations- und damit Wettbewerbsvorteil verschaffen, die solche accounts nicht haben. Das Anlegen eines accounts aber könne man als Pflicht nicht verlangen. Daher verlangt Philippe Wampfler ja in seinem ersten Artikel auch z.B. freie smartphones für Schüler ab Klasse 7 – das wäre eine Grundbedingung.
streiche ein „nicht“
Lieber Philippe Wampfler,
ganz, ganz herzlichen Dank für diese perfekte Ausführung!
Liebe Grüße aus Österreich Michaela Schmitz