Digitale Bildung und Schulsozialisation

Studierende, die sich für den Lehrberuf interessieren, sind ein interessantes Studienobjekt: Man kann zeigen, dass ihre Vorstellungen in Bezug auf Mediennutzung stark von ihrer eigenen Erziehung geprägt sind und diese oft ihren eigenen Verhaltensweisen im Umgang mit Neuen Medien widersprechen (vgl. Arbeiten von Sven Kommer und Ralf Biermann). Kurz: Junge Lehrkräfte sind aufgrund ihrer eigenen Sozialisation oft nicht bereit, neue mediale Möglichkeiten im Unterricht einzusetzen, auch wenn sie dies selbst für ihre eigene Kommunikation tun.

Dieser Effekt betrifft digitale Bildung aus meiner Sicht auch auf einer anderen Ebene: Der grundsätzlichen Vorstellung, was Schule und schulisches Lernen bedeuten. Diese wird an Grundschulen mit großem Aufwand eingeübt. Konstanten: Unterricht im Klassenzimmer mit mäßigem Einsatz von Individualisierung, Lesen, Schreiben und generell Lernen erfolgen auf Papier, Leistungsmessung erfolgt in mehr oder weniger standardisierten, vorgegeben und einzeln zu erledigenden Prüfungen.

Werden Lernende auf einer späteren Schulstufen mit davon abweichenden Ideen konfrontiert, dann reagieren sie meist so, wie Schülerinnen und Schüler meiner Schule das kürzlich bei einem Besuch bei der Evangelischen Schule Berlin Zentrum getan haben: Könnten sie selbst bestimmen, was und wie sie lernen wollen, würden sie einfach nicht lernen, formulierten sie mit einer großen Selbstverständlichkeit. Lernen ist für sie klar fremdgesteuert und erfolgt unter pädagogischem Zwang. Die Schülerinnen der Berliner Schule nahmen das gelassen hin: In einem gewissen Alter, so die subtil versteckte Aussage, seien Kinder einfach verloren, wenn sie »normale« Schulen besuchten.

Das stimmt wohl: Digitales Lernen ist für mich direkt mit anderen Lernformen verbunden. Selbstgesteuertes, offenes, reflektiertes, freiwilliges und kollaboratives Lernen wäre das Ideal, das u.a. mit digitalen Mitteln erreicht werden soll. Nur braucht es dafür eine doppelten Aufwand: Diese Ideen und die dafür nötigen Tools müssen nicht nur eingeführt werden, sondern die Grundüberzeugung, wie Schule funktioniert, muss gleichzeitig neutralisiert werden. Bei Lernenden und Lehrenden. Man könnte zum Schluss kommen, dass vernünftige Projekte nur in der ersten Klasse beginnen sollten.

Bildschirmfoto 2015-10-05 um 21.52.20
Quelle: SZ

3 Kommentare

  1. brueedi sagt:

    Mein Blick ist zugegebenermassen sehr eng, ich sehe kaum über den Tellerrand sprich mein (nicht-mehr-) Team (Sek I) hinaus. Immerhin habe ich dank hohem Lehrerwechsel während der letzten Jahre zahlreiche neue KollegInnen frisch ab Presse kennengelernt. Sie zeichneten sich in der digitalen Bildung samt und sonders als wenig bis nicht-kompetent aus. Mit digitaler Kompetenz meine ich viel mehr als das Schreiben von WhatsApp Nachrichten und Endlos-Selfie-Produzieren.

    Im Buch „Digitale Kompetenz“ beschreiben die Autoren ein Beispiel, welches von idealen Voraussetzungen aus geht, welche ich noch nie auch nur annähernd angetroffen habe. Ich setze mich in meinem Blog (http://rueedi.imnusshof.ch/lernenunterwegs/blog/2015/10/02/digitale-kompetenz/) mit diesem und weiteren Beispielen auseinander.

    Es ist irrig, davon auszugehen, junge LehrerInnen könnten die „neuen medialen Möglichkeiten im Unterricht einsetzen“, nur weil sie jung sind – geschweige denn, weil sie kürzlich eine pädagogische Ausbildung abgeschlossen haben.

  2. doebeli sagt:

    „Der grundsätzlichen Vorstellung, was Schule und schulisches Lernen bedeuten. Diese wird an Grundschulen mit großem Aufwand eingeübt. Konstanten: Unterricht im Klassenzimmer mit mäßigem Einsatz von Individualisierung.“

    Ich kann diesbezüglich nicht gleich empirische Untersuchungen bieten, bin mir aber nicht sicher, ob die Individualisierung in Schweizer Primarschulen nicht grösser ist als in höheren Schulstufen. Wochenplanunterricht kenne ich beispielsweise von der Primarschule, weniger auf der Sekundarstufe I + II. Sehr subjektiv erlebe ich Primarschulen als Individualisierender als die Sekundarstufe I.

    Ich glaube da müsste man noch etwas genauer hinschauen, welche Schulstufe welches Bild von Schule prägt…

    1. pirminstadler sagt:

      „Genauer hinschauen“ ist das richtige Stichwort. Wo „Wochenplan“, „selbstgesteuertes Lernen“ oder „offener Unterricht“ drauf steht, ist selten das gleiche drin. Wochepläne können von der Lehrperson gefüllt (bzw. überfüllt) sein und die Lernenden dürfen dann abarbeiten, was die Lehrperson vorgibt. Stehen bei allen die gleichen Inhalte auf dem Plan, ist das kaum individualisiert. Vielleicht können die Kinder die Reihenfolge selbst bestimmen, den Lernort wählen, im eigenen Tempo arbeiten (müssen dann aber trotzdem alle am Ende der Woche fertig sein, also Hausaufgaben machen). Ein solcher Wochenplan ist wenig individualisiert und immer noch sehr fremdgesteuert.
      Es gibt jedoch auch „leere Pläne“, die vom Kind selbst gefüllt werden müssen. Man gibt als Lehrperson Steuerung ab, öffnet den Unterricht inhaltlich und fordert Selbstverantwortung, Lernreflexion und Verbindlichkeit. Ein „leerer Plan“ heisst nicht, dass die Lernenden tun können, was sie wollen. Der Rahmen wird von der Lehrperson vorgegeben, der Unterricht ist zielgerichtet und folgt klaren Strukturen.
      Dazu habe ich vor kurzem einige Überlegungen aufgeschrieben: http://pistadler.ch/innovativeschulen/

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