Bitte verzichtet auf den Begriff »digital natives«!

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Das ist ein Aufruf, vielleicht auch ein Rant. Er enthält eine ganz einfache Botschaft: Hört bitte auf, von »digital natives« (und damit auch von »digital immigrants«) zu sprechen.

Mir ist bewusst, dass die geographisch-politische Metapher viele amüsiert und gleichzeitig dabei hilft, das Verstörende am Internet konzeptuell zu erfassen. Gleichwohl gibt es gute Gründe, den Begriff im 1. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zu belassen und bessere zu finden.

  1. Der Begriff setzt voraus, dass der Zeitpunkt der Geburt darüber entscheidet, ob Menschen Technik nutzen. Tatsächlich sind dafür eine Reihe von Faktoren entscheidend, unter denen das Alter keine herausragende Rolle spielt.
  2. »digital native« impliziert einerseits eine automatische technische Fertigkeit, andererseits eine gewisse Naivität in Bezug auf die sozialen Auswirkungen von Technologie (Beziehungen, psychische Konsequenzen, Privatsphäre, Werbung, Manipulation etc.).
    Beide Annahmen sind falsch: Weder ist das Alter dafür ausschlaggebend, dass Fertigkeiten autodidaktisch ausgebildet werden können, noch verhindert es Reflexion.
  3. Erwachsene können Kinder und Jugendliche nicht allein lassen mit ihren Gadgets, müssen ihnen aber auch nicht mit ihrer gebündelten Weisheit ihre Unbedarftheit unter die Nase reiben. Gefragt ist ein offenes Gespräch, die Bereitschaft, andere Sichtweisen zuzulassen, ohne vorzugeben, dass es »Eingeborene« und »Einwanderer« gibt. Die werden nämlich meist schnell zu Kolonialherren.
  4. Der Fokus auf das Alter verhindert, dass die mit der Digitalen Kluft verbundenen Probleme Menschen ins Bewusstsein rückt. Viele im Arbeitsmarkt entscheidende Fähigkeiten können nur Menschen erlernen, die Eltern haben, die sich kümmern, oder die gute Schulen besuchen. Mit ihrem Alter hat das nichts zu tun.
  5. (Das ist eigentlich ein Geheimnis.) Die Verwendung von »digital native« ist ein Schibolleth: Fachleute verwenden diese Sichtweise kaum noch, während sie unter Laien massive Verbreitung findet.

* * *

In meinem neuen Buch habe ich das wie folgt formuliert:

Spricht man über digitale Kommunikation, so fließt meist schnell das Begriffspaar »digital natives« und »digital immigrants« ins Gespräch ein. Seit Marc Prensky 2001 erstmals von dieser Gegenüberstellung sprach, werden dadurch Vorurteile zementiert, die sich wissenschaftlich kaum nachweisen lassen. So erwerben eben nicht alle Jugendlichen autodidaktisch-spielerisch Kompetenzen im Umgang mit Neuen Medien, nur weil sie später geboren sind als ihre Eltern. Und älteren Menschen ist es nicht verwehrt, einen selbstverständlichen Umgang mit digitaler Technik zu pflegen. Entscheidend ist es, eine Mischung zu finden: zwischen den spielerischen, automatischen Lernprozessen und dem bewussten Gestalten von Lernumgebungen, in denen dank Begleitung erfahrener Coaches Grundfertigkeiten sicher angeeignet werden können.

13 Kommentare

  1. Keksfee sagt:

    Was noch niemand hier erwähnt hat: Das Herumpatschen auf Smartphone oder Tablet der Eltern als Kleinkind mag zwar drollig aussehen, ist aber kein bisschen aussagekräftig. Lara oder Finn kann das 2007 gemacht haben und trotzdem 2023 keine andere Suchmaschine als Google kennen.

  2. doebeli sagt:

    Hmm, die Kritik am Konzept der digital natives ist nicht gerade neu 😉 – hast Du auch schon David Whites Gegensatzpaar von „digital resident“ (http://doebe.li/w2832) vs. „digital visitor“ (http://doebe.li/w2831) einer kritischen Prüfung unterzogen?

  3. Robert sagt:

    „Der Begriff impliziert, dass der Zeitpunkt der Geburt darüber entscheidet, ob Menschen Technik nutzen.“ Nein, nicht der Begriff, sondern die Definition des Begriffs impliziert das. Die Begriffe sind ja nicht schlecht, sie sollten einfach nicht an Jahrgänge gebunden werden. Sprich: Auch soziale und kulturelle Hintergründe gehören in die Definition.

  4. Ein Aspekt fehlt mir bei dieser Auflistung noch: dass es sich bei dieser Wortentlehnung um ein sagenhaft geschickt gewähltes MARKETINGPRODUKT handelt. Mit diesem in unseren anglophilen Ohren wohlklingenden Anglizismus sollen all die unguten Gefühle weggewischt werden, die Eltern erfassen, wenn sie die unweigerlichen Veränderungen am Verhalten und im Gemüt ihres Kindes bemerken. Im Wort schwingt etwas Leichtes mit, als würde sich der Erwachsene im Gespräch mit einem Kind lächelnd auf dessen Augenhöhe begeben. „Ich bin Dir ja eigentlich gar nicht so überlegen, wie es scheint!“ – das kann aus dem Mund eines Erwachsenen doch nur sympathisch rüberkommen.

    Und dennoch, all diese sprachlichen Beschwichtigungsversuche bleiben Unsinn und Lüge. Haben sich doch schon in der Entwicklungsphase des jeweiligen Gadgets Legionen von Programmierern und Werbepsychologen so gezielt wie erfolgreich des kindlichen Gemütes bemächtigt. Ein Mal angefixt, gibt es für die Heranwachsenden kein Zurück mehr. Und wir bestaunen derweil die Kleinen, wie gekonnt sie wischen und drücken. – Derweil immer weniger Kinder im Grundschulalter sicher rückwärts gehen, geschweige denn auf Bäume klettern können.

  5. Die Punkte die Du anführst, warum man den begriff nicht verwenden sollte haben etwas für sich. Aber ich denke der Begriff zielt auf einen andere Kenrbedeutung: Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es ein großer Unterschied ist, wenn man ohne Internet und Mobiltelefon aufgewachsen ist, oder ob man das als normaler Bestandteil des Alltags seit der Kindheit wahrgenommen hat.

    Für mich sind die Digital Natives diejenigen, die damit aufgewachsen sind. Ich impliziere damit keine besonderen Fertigkeiten, sondern einen Unterschied in der Lebenserfahrung, im gegensatz zu denen, die ohne aufgewachsen sind. Digital Natives als in die Zeit „hineingeboren“ trifft es damit recht gut. Meine implikation ist schlicht „die Welt nicht anders kennengelernt“.

  6. Ah! Seite 145f. Sehr schön – und sehr lesenswert. Ich habe dein Buch bisher nur überflogen, bisher die „Smartphone-Etikette“ als nützlich und gut befunden, und freue mich darauf, es jetzt ganz zu lesen.

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