[Rezension] Digitale Kompetenz

Werner Hartmann und Alois Hundertpfund haben ein wichtiges Buch geschrieben. Oder müsste man sagen: Sie haben eine hilfreiche Webseite aufgesetzt? So lesenswert »Digitale Kompetenz« ist, so hilfreich ist das Begleitmaterial auf digitalekompetenz.ch. Beide gehen von derselben Liste von Kompetenzen aus, mit der die Lehrkräfte und Schulen dabei begleiten wollen, die »Werkzeuge der Vergangenheit« wegzulegen.

Das Buch soll Mut machen, eine aktive Rolle einzunehmen, indem es aufzeigt, dass grundlegende Konzepte sowohl im Umgang mit Informationen und Wissen als auch beim Kommunizieren und beim Kooperieren in einer digital geprägten Gesellschaft weiterhin gültig sind. (S. 7)

Diese Kompetenzen denken die Autoren nie – so der gängige Vorwurf in der didaktischen Diskussion über Kompetenzen – als theoretische Konzepte, sondern führen praktisch vor Augen, was sie bedeuten. Deshalb gehören Webseite und Buch untrennbar zusammen: Wer sich als Lehrerin oder Lehrer ernsthaft mit dem Programm von Hartmann und Hunderpfund auseinandersetzen möchte, kommt nicht umhin, die Tools, welche die Webseite sammelt, zu prüfen und einzusetzen.

Bevor ich das an einem Beispiel zeige, möchte ich die Kompetenzen kurz auflisten und kommentieren.

  1. Information und Wissen: Verwesentlichung
  2. Soziale Intelligenz und Verständigung
  3. Kritisches und flexibles Denken
  4. Umgang mit kultureller und sozialer Heterogenität
  5. Abstraktion und Modellbildung
  6. Nutzung digitaler Werkzeuge
  7. Rollenbilder privat, beruflich und öffentlich
  8. Kreatives, produktives Denken
  9. Informelles und selbst­bestimmtes Lernen
  10. Virtuelle Zusammenarbeit

Die Autoren – so sieht man auf den ersten Blick – erfinden hier nichts. Sie gehen in klaren und knappen Abschnitten von der aktuellen Realität der Schulen an der Sekundarstufe II aus und begründen die beschriebenen Kompetenzen mit den Anforderungen der Berufswelt, der Gesellschaft und der Forschung. So zeigen sie beispielsweise, dass Abstraktion und Modellbildung wesentliche Aufgaben der medizinischen Forschung sind, dass politische Kommunikation kritisches Denken in besonderem Maße braucht, weil Profis Medien zunehmend instrumentalisieren und dass eine Reflexion von Rollenbilder für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben unabdingbar ist. Ethische Überlegungen sind in jedem Abschnitt präsent: Es wird bei der Lektüre deutlich, dass den Autoren daran gelegen ist, die Urteilsfähigkeit und Eigenständigkeit von Lernenden zu fördern.

Wer also erwartet, Tools wie Apps, Webseiten oder Programme vorgestellt und erklärt zu bekommen, wird enttäuscht. Die Kompetenzen, die Hartmann und Hundertpfund vorstellen, sind so breit gedacht, dass sie nicht im eigentlichen Sinn »digitale« sind, sondern sich lediglich auf das Leben, Denken, Lernen und Arbeiten unter den Bedingungen der Digitalisierung beziehen.

Die einzelnen Kapitel sind für sich alleine lesbar, eine Lehrkraft bewältigt ein Kapitel in einer halben Stunde gut – meine Empfehlung wäre, das Buch im Kollegium während eines Semesters zu lesen und jede Woche etwas davon im Unterricht auszuprobieren. Die einzelnen Kapitel sind mit Fragen gegliedert:

  • Was heißt das für die Schule?
  • Wie macht die Schule das?
  • Was muss ich wissen und können?

Dazu gesellen sich eine Reihe praxisbezogener Beispiele, die als offene Anregungen Lehrkräften Raum lassen, eigene Projekte und Ideen zu den einzelnen Themenbereichen zu entwickeln. Die Zielgruppe umfasst dabei den Lehrkörper von Berufsschulen genau so wie den von Gymnasien – die Beispiele beziehen sich auf alle Fachbereiche gleichermaßen.

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Einfache, aber sinnvolle Grafiken illustrieren die Ausführungen. So liest sich das Buch – genau so wie die Webseite – sehr angenehm.

Abschließend möchte ich auf ein für mich herausragendes Kapitel etwas genauer eingehen: Es widmet sich der Kompetenz »Kreatives, produktives Denken«. In der Einleitung wird deutlich gemacht, dass Kreativität nur unter individuell unterschiedlichen Voraussetzungen entsteht und beschränkt lehrbar ist. Sie ist an eine Fehlerkultur gebunden, nicht immer professionell und gerade durch die Komplexität der digitalen Information bedroht. In der Frage, was digitale Kreativität für die Schule bedeute, kommen die Autoren schnell auf die Leistungsmessung zu sprechen, die mit digitalen Werkzeugen häufig Kreativität durch Standardisierung einschränkt.

In der Schule darf es nicht nur um das Lösen von Aufgaben und Problemen gehen, deren Lösungen die Lehrpersonen in aller Regel bereits kennen. Dem Gestalten eigener Lerngelegenheiten muss genügend Platz eingeräumt werden. Dabei darf die Schule eine Einbuße an Perfektion in Kauf nehmen. (S. 220)

An diese Beispiele schließen praktische Vorschläge an: An Schulen Lernenden wie bei Google Zeit zu geben, eigene Projekte zu entwickeln, bei Physikprüfungen alle Hilfsmittel zuzulassen, dann aber praktische Probleme als Aufgaben zu stellen (»Wie kann eine einzelne Person einen außergewöhnlich schweren Bauernschrank auf einem Fussboden verschieben?«) oder im Deutschunterricht einen Essay zu einem Thema schrieben zu lassen, das sich in den gängigen Internetquellen zu Werther nicht findet.

Das Buch gehört in jede Schulbibliothek und sollte von jeder Lehrperson, die an Berufsschulen oder an Gymnasien unterrichtet, bis zum nächsten Sommer gelesen werden. Wie gesagt: Lese- und Experimentiergruppen bieten sich an! Das Buch erscheint bei HEP und kann aus der Schweiz hier, aus Deutschland und Österreich hier bestellt werden.

5 Kommentare

  1. brueedi sagt:

    Ich freue mich aufs Buch. Das Buch gehört (voraussichtlich) nicht in jede Schulbibliothek, sondern als Pflichtlekture für alle LehrerInnen, die darüber zudem eine Zusammenfassung schreiben müssten! Und ja: noch viel wichtiger wird (hoffentlich) die http://www.digitalekompetenz.ch werden (müssen). Allerdings muss sie noch wichtige Kriterien erfüllen, wenn sie auch mir gefallen soll. Selbstverständlich meine ich das Kapitel 6: Nutzung digitaler Werkzeuge. Wenn ich auf „Mehr dazu lesen…“ clicke, gefallen mir die verlinkten Websites noch gar nicht. Da müssen unbedingt Klassenblogs engagierter Schweizer VolksschullehrerInnen rein, welche die „Nutzung der digitalen Werkzeuge“ tatsächlich zum Inhalt haben.

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