Haben digitale Medien einen Mehrwert für das schulische Lernen?

Ich folge der Einladung zur Blogparade zu der im Titel genannten Frage gerne. Diese grundsätzliche Ebene erreicht fast jede der Weiterbildungsveranstaltungen, die ich an Schulen zu diesem Thema durchführe oder besuche.

Die Frage setzt voraus, dass bekannt ist, was »schulisches Lernen« ist. Damit wird davon ausgegangen, dass sie nur im Rahmen eines schulischen Settings beantwortet werden kann, das mit bestimmten Annahmen gekoppelt ist, z.B.:

  • Das relevante, interessante Lernen ist das schulische.
  • Die Rollenverteilung von Lehrkräften und Lernenden ist gegeben.
  • Das Schulhaus als Raum mit Klassenzimmern, in denen Präsenzlektionen abgehalten werden, stellt den Lernort dar.
  • »Lernen« ist leistungsbezogen: Es führt zu einem Output, der z.B. in Prüfungen messbar ist und zu Abschlüssen und Qualifikationen führt.

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Die Digitalisierung zeigt, dass das Fundament dieser Annahmen wackelig geworden ist. Sie bezieht sich auf anderen Formen von Lernen und auf alternative Beziehungskonstellationen, z.B. beim informellen Lernen. Mit dieser Vorbemerkung ist die Frage nicht beantwortet, lediglich festgehalten, dass der Mehrwert digitaler Medien sinnvollerweise in Bezug auf »das Lernen« untersucht werden müsste.

[Schulische Bildung] zielt auf Persönlichkeitsentwicklung und Weltorientierung, die sich aus der Begegnung mit zentralen Gegenständen unserer Kultur ergeben. [S. 3]

Dieser Satz steht in den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss für das Fach Deutsch. Die Kultusministerkonferenz bezieht sich mit »zentralen Gegenständen unserer Kultur« auf Narrative, Bilder, Filme, Spiele etc., die heute digital vorliegen. Ohne digitale Medien ist diese Anspruch nicht einzulösen. Kultur findet heute digital statt. Zeitungstexte, Romane, Gedichte entstehen primär digital. »Online first« ist längst das Prinzip der menschlichen Kommunikation geworden.

Es scheint hier müssig, sich zu überlegen, ob digitale Medien einen »Mehrwert« bieten: Ohne digitale Medien hat schulisches Lernen mittelfristig gar keinen Wert – weil es sich aus der Kultur und Kommunikation, welche die Umwelt Jugendlicher und Erwachsener prägt, verabschiedet hat.

Aber wahrscheinlich meint die Frage auch das nicht. Vielmehr richtet sie sich auf konkrete Bildungsstandards und will wissen, ob digitale Medien als Methode einen Mehrwert haben, wenn in den Standards beschriebene Kompetenzen in der Schule erworben werden. Betrachten wir ein Beispiel:

Aufbau, Inhalt und Formulierungen eigener Texte hinsichtlich der Aufgabenstellung überprüfen (Schreibsituation, Schreibanlass) [S. 13]

Dieser Standard wird von digital arbeitenden Deutschlehrkräften wie Urs Henning mit Google Drive und Peer-Feedback umgesetzt. An ihm orientiere ich mich zunehmend bei der konkreten Umsetzung schreibdidaktischer Einsichten. Die Digitalisierung ermöglicht, dass das Prozesshafte beim Schreiben von Texten beobachtet werden kann – und zwar nicht nur von der Lehrperson, sondern auch von Mitlernenden.

Das ist für mich ein klarer Mehrwert. Er legt nicht nahe, nur noch am Bildschirm zu schreiben, er bedeutet keine Reduktion des Aufwands für die Lehrperson oder die Lernenden, er beantwortet die Frage nicht, wie ich denn bei einer Prüfung verhindern kann, dass die stilistisch begabte Tante den Aufsatz für einen Schüler schreibt. Vielmehr macht er didaktische Settings möglich, die schon in analogen Zeiten als fruchtbar erkannt wurden, aber kaum je umgesetzt werden konnten.

tl;dr Digitalisierung bedeutet drei Dinge für die Schule: Sie stellt sie als Institution infrage. Sie prägt die Kultur, auf die sich Schule bezieht. Sie erweitert das didaktische Repertoire für Lehrpersonen. 

8 Kommentare

  1. Lars Rabeler sagt:

    Hallo!
    Ich gehe noch weiter, als zu sagen „Die Digitalisierung erweitert das didaktische Repertoire für Lehrpersonen!“, ich glaube, dass sich „Lehrende“ im Rahmen des digitalen Lernens zum „Begleiter“entwickeln müssen, der auch nicht mehr alles weiß.

    Mehr dazu auch in meinem Beitrag zur Blogparade: http://rabeler.abacus-nachhilfe.de/tipps-und-neuigkeiten-fuer-eltern/digitales-lernen.html

    Meine zwei Fazits aus diesem Artikel :
    1. Digitales Lernen ist im aktuellen Schulsystem kaum umsetzbar!
    2. Mit digitalen Medien kann man nicht grundsätzlich besser lernen, aber anders: im besten Fall sogar schneller und effektiver!

  2. PhM sagt:

    Ein Bildungsmedium verweist stets über sich hinaus, es wird mit Transzendenz aufgeladen: »Wenn man recht liest, so entfaltet sich in unserm Innern eine wirkliche, sichtbare Welt nach den Worten«, so Novalis im Brouillon. Zur Goethezeit ein Buch zu lesen hiess, sich einer transzendenten Wahrheit zu nähern. Eine Buch war eine geile Sache.

    Diese Unmittelbarkeit von transzendenter Welterfahrung stellt sich bei unseren SchülerInnen beim Lesen eines Buches nur noch selten ein. Meist erscheint es ihnen in seiner banalen Materialität als einigermassen sinnloses Schwarzweiss auf Papier.

    Der Mehrwert digitaler Medien besteht meiner Meinung nach genau darin: den metaphysischen Überbau des Buches aus der Goethezeit übernommen zu haben. Digital ist geil, Print ist neanderthal.

    Digitale Medien informieren nicht besser, wissen nicht mehr, sie machen Inhalte nicht verständlicher, nicht reicher als das Buch – aber sie vermitteln eine kaum zu durchschauende Faszination für eine „wirklichere Welt nach Worten“.

    Als einzelne Lehrkräfte können wir aktuelle Aufschreibesysteme (Kittler) nicht beeinflussen und tun wohl gut daran, den neuen Göttern unsere Opfer darzubringen und den digitalen Zirkus mitzumachen. An der Matura will ich jedoch keine Schüler prüfen, die sich willfährig durch alle Apps durchzuklicken verstehen, sondern solche, die eine Ahnung davon haben, dass Bildungsmedien sich auf ihre Ontologie hin befragen lassen: Wie stellen sie Welt, Sprache und uns selbst her?

  3. ugiessmann sagt:

    Hallo, Herr Wampfler,

    denken Sie noch (oder schon) an unsere DDD (Digitale Deutsch-Didaktik)?

    Da ist so viel Stoff in Ihrem Kopf …

  4. Welche Aufgabe hat das Lernen im Dschungel ?
    Die gleiche Aufgabe, die es bei uns haben SOLLTE.
    Die Vorbereitung auf das reale Leben.
    Bereitet unsere Schule die Kinder auf das reale Leben vor?
    Immer weniger.
    Durch die Digitalisierung ist die Kluft zwischen realem Leben und der Dchule noch viel größer geworden.
    So lange wir den Sinn der Digitalisierung als eine Wissensbasis unserer Zeit nicht in den Schulen akzeptieren, so lange Unternehmen dendigitalen Chancen im internationalen Vergleich „hinterherhinken“, so lange werden Lehrer den Sinn von Blogs etc. Nicht erkennen.
    Wie erkennt man den Sinn?
    Durch Not. In der Regel.
    Wir müssen wirtschaftlich abdriften, damit wir handeln. Leider.

    ….also schlafen wir weiter…uns geht es ja gut….bis wir von vielen Ländern digital und auch wirtschaftlich überrundet werden….

  5. Hi Phillippe,
    danke für diesen wichtigen Artikel. Auch ich höre in fast jeder Lehrerfortbildung die Frage nach dem Mehrwert für das schulische Lernen. Dein letzter Satz im Artikel ist doch entscheidend.

    Die Digitalisierung erweitert das didaktische Repertoire für Lehrpersonen!

    Das prozesshafte beim Schreiben und die Reflexion über das Gelernte ist – genau wie du es sagst- besonders wichtig. Dies ist wichtig für die Schüler und auch der Lehrer kann mehr über seine Schüler dadurch lernen.

    Meine Frage
    Welche guten Argumente kann ich Lehrern an die Hand geben, mit ihren Schülern weböffentlich zu bloggen?
    Wie nehme ich die Angst vor der Öffentlichkeit?
    Wie begegne ich dem Argument, dass Bloggen besonderen Zusatzaufwand bedeutet?

    Danke für dein bzw. euer Feedback!

    PS: Lesetipp: Artikel von @HerrLarbig – Wie digitale Geräte das Arbeiten erleichtern können
    http://herrlarbig.de/2014/03/24/11-tipps-fuer-lehrer-wie-digitale-geraete-das-arbeiten-erleichtern-koennen/

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