Inhalte in Social Media sind halb-öffentlich, nicht öffentlich

We live in public, Quelle
We live in public, Quelle

In der Diskussion über den Twitter-Account @blockempfehlung, auf dem aus einer radikalfeministischen Perspektive Profile erwähnt werden, welche Menschen mit ähnlichen Haltungen blocken sollten/könnten, um gar nicht erst mit ihnen in Kontakt kommen zu können. Der Account wurde schnell als Pranger gebrandmarkt und mit wüsten Beleidigungen eingedeckt, umsichtigere Einordnungen wie die von Martin Weigert sprechen von einem konstanten Druck zur Konformität in sozialen Netzwerken, der durch die permanente Überwachung anderer entsteht, eine digitale Sozialkontrolle.

Persönlich sehe ich zunächst kein Problem damit, eine bestimmte Empfehlung abzugeben. Blocken ist ein rein passiver Akt, »filtern« wäre das bessere Wort. Ohne Filtersouveränität sind soziale Netzwerke nicht denkbar. Wer sich an den Empfehlungen von @blockempfehlungen stört, kann auch dieses Profil blocken oder die entsprechenden Tweets/Empfehlungen schlicht ignorieren. (Den Kritikerinnen und Kritikern würde ich zugestehen, dass eine Empfehlung von @blockempfehlung einer moralischen Verurteilung gleichkommt, bei der unterschiedlichste Problemlagen (»Maskus, Nazis, Macker, Derailing […]«) zusammenfallen. Zudem kann aus entsprechenden Empfehlungen zum Blocken auch ein Mobbing-Prozess entstehen.)

Im Folgenden möchte ich mich aber auf einen ganz spezifischen Aspekt konzentrieren. Auf die Frage, ob es sich bei einem Profil in sozialen Netzwerken um öffentliche Informationen handle. Meine These: In sozialen Netzwerken entsteht eine andere Form von Öffentlichkeit als in Massenmedien. Ich fände es angemessen, von Halb-Öffentlichkeit oder potentieller Öffentlichkeit zu sprechen, und werde das im Folgenden kurz begründen. [Zusatz 3. Januar: Der Begriff der Öffentlichkeit wird in den Kommentaren differenzierter behandelt.]

Als Rahmen ein theoretischer Exkurs, aus dem ich meine Schlüsse ziehen werde. Der Verweis auf Danah Boyds Konzept on »networked publics«, also einer Netzwerköffentlichkeit, ist hier hilfreich. Boyd macht drei zentrale Dynamiken aus:

  1. Das Publikum oder die Publika sind unsichtbar, d.h. sie sind nicht unmittelbar anwesend und für die Senderin/den Sender nicht erkennbar. Schreibe ich einen Tweet, weiß ich nicht, wer ihn liest.
  2. Versteckte Kontexte: Äußerungen werden häufig außerhalb eines sozialen Kontextes wahrgenommen, weil es keine zeitlichen oder räumlichen Beschränkungen gibt.
  3. Öffentlichkeit und Privatheit lassen sich nicht länger trennen, sondern verschmelzen.

Diese Tendenzen sind unmittelbar einsichtig und mit klaren Risiken verbunden. Gleichwohl gibt es aber Erwartungen, die auf Wahrscheinlichkeiten basieren. Twittere ich eine Beobachtung aus der S-Bahn, so wird die in der Regel von 100-200 Menschen gelesen, von denen wohl höchstens zehn darauf reagieren. Die meisten werden sie in den korrekten Kontext einordnen können. Will ich diese Zahlen reduzieren, dann lege ich mir einen neuen Twitter-Account an, dem dann weniger Menschen folgen. Ich habe eine gewisse Kontrolle darüber, wie groß das erreichte Publikum ist, und ich habe berechtigterweise gewisse Ewartungen, was mein Publikum mit meinen Äußerungen macht.

Nun ist es aber theoretisch möglich, über einen Webbrowser auf meinen Twitter-Stream zuzugreifen. Es ist nicht auszuschließen, dass mein Tweet von einflussreichen Konten verbreitet wird und er von Tausenden oder Millionen gelesen wird, wie das beim folgenden Beispiel passiert ist:

Vor zwanzig Jahren gab es private Briefe und öffentliche Zeitungen, Fernseh- und Radioprogramme. Damals hatten Flugblätten ungefähr den Status von Social Media: Zu erwarten war, dass einige das Flugblatt lesen, die es direkt zugestellt bekommen oder es finden; möglich war aber, dass das Flugblatt in einer Publikation abgedruckt oder zitiert wurde.

Wie Nathan Jurgenson richtig bemerkt, gibt es ein Risiko, dass Äußerungen in sozialen Netzwerken öffentlich werden – sie sind es aber nicht per se. Viele Äußerungen sind privat, können aber öffentlich eingesehen werden. Mit dieser Flugblatt-Öffentlichkeit sind – so würde ich argumentieren – viele Menschen, Medienschaffende und die Rechtssprechung überfordert, weil sie von einer binären Trennung zwischen öffentlichen und nicht-öffentlichen, also privaten Äußerungen ausgehen.

Vor über einem Jahr habe ich kurz dargelegt, wie ich die Öffentlichkeit von Inhalten in sozialen Netzwerken beurteilen würde – nämlich analog zum Recht am eigenen Bild. Entscheidend wären für mich folgende Kriterien, die zu einer Skala von 3 bis 9 führen.

  1. Wo wurde eine Information publiziert?
    1: soziales Netzwerk – 2: persönlicher Blog – 3: Seite einer Organisation oder Institution
  2. Wer hat die Information publiziert?
    1: Privatperson – 2: Person der Zeitgeschichte – 3: Amtsperson
  3. An wen ist sie gerichtet?
    1: eingeschränkter Kreis von Adressaten – 2: Adressaten, aber öffentlich einsehbar – 3: an die Öffentlichkeit (Wunsch maximaler Verbreitung)

tl;dr: Es ist sinnlos, Einträge in sozialen Netzwerken undifferenziert als »öffentlich« zu bezeichnen, wenn die überwiegende Mehrheit dieser Einträge klar nicht-öffentlich sind.