Am Gymnasium hatte ich einen Englischlehrer, den ich zunächst recht lustig fand. In seiner Freizeit trat Herr H. auch als Komiker auf. So konnte er sich und die Klasse hervorragend darüber lachen lassen, wenn eine Schülerin statt »bear« »beer« sagte oder ein Schüler die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Herr H. war notorisch unpünktlich, von ihm stammte die Definition, der Unterricht beginne, wenn er den Raum betrete. Traf ein Schüler nach ihm ein, dann bestimmte sein Status über die Reaktion: Als guter Schüler begrüßte er mich mit einem Nicken, über einen Mitschüler, der Mühe mit Englisch hatte, goss er eimerweise Häme aus. Bald fand ich Herrn H. nicht mehr komisch, sondern tyrannisch. Er missbrauchte die Macht, welche ihm das System Schule zuwies. Mit perfiden Strategien verhinderte er, dass Klassen sich dagegen wehrten – es gab immer zu viele, die von seinem Verhalten profitierten.
Als ich mit dem Unterrichten begonnen habe, übernahm ich nicht die Methoden von Herrn H. Ich bildete mir ein, alles besser zu machen und ermunterte meine Schülerinnen und Schüler, Kritik zu äußern. Die meiner Freundinnen und Freunde blendete ich hingegen aus: Bei gemeinsamen Aktivitäten bestand ich zunehmend auf meinen Vorstellungen, ich erwartete, dass meine Meinung gehört und respektiert wurde – viel stärker, als mir das eigentlich zustand. Oft wollte ich bestimmen, wie ein Abend oder ein Ausflug zu verlaufen habe. Mit meinem Beruf brachte ich das nicht in Verbindung – oder erst etwas später. Heute ist mir das bewusst: Macht verändert die Persönlichkeit. Wer sich daran gewöhnt hat, 25 junge Menschen anzuleiten und sich durchzusetzen, wird ein anderer Mensch.
Besonders deutlich wird das beim Thema Kritik: Lehrkräfte wissen Bescheid, wie Kritik geht, sie lehren das andere ja auch. Doch oft ergibt sich eine kognitive Dissonanz: Sie können nicht umsetzen, was sie theoretisch verstanden haben. Andere kritisieren sie gerne und ausgiebig. Die Bildungspolitik, Schulleitung und Fachdidaktik machen Fehler am laufenden Band, auf die mit heftigen Gesten hingewiesen werden müssen – die Praktikerinnen und Praktiker hingegen verbitten sich Kritik an ihrem reflektierten Handeln im Unterricht. Sie wissen besser als die Politik, die Theoretikerinnen oder Führungsverantwortliche, wie Unterricht zu gestalten ist. Bei anderen Lehrkräften sind zwar oft deutliche Fehler sichtbar, auf die auch Klassen hinweisen, aber aus Solidarität sagt man offen dazu nichts, sondern nur hinter vorgehaltener Hand. (Diese pauschale Darstellung ist äußerst übertrieben, aber sie zeigt für mich eine der Immunisierungsstrategien, die Lehrkräfte verwenden.)
Die Kritikkultur in Lehrerteams ist mangelhaft – aber das gilt wohl für fast jede Berufsgruppe. Bewegen sich nun zunehmend Lehrkräfte im Netz, wird das für breitere Kreise sichtbar und erlebbar. Die Aufmerksamkeitsökonomie im Netz verschärft das Problem, da nicht alle gleich viel Aufmerksamkeit erhalten und verteilen können – was schnell sichtbar wird. Verbanden sich die ersten im Netz aktiven Lehrkräfte mit einem gewissen Pioniergeist zu einer Community, zerfällt diese Community nun in Untergruppen, die eigene Codes oder »heimliche Regeln« entwickeln. So können sich neue Konflikte ergeben, die schnell eine zuvor ungewohnte Gehässigkeit erhalten können.
Die im letzten Post diskutierte Snapchat-Geschichte ist ein Beispiel dafür: Ein angeteaserte Unterrichtsidee erhält positives, aber auch mehrfach negatives Feedback von verschiedenen Seiten. Schnell scheint alles gesagt, nur halt noch nicht von allen. Jede Community kann sich dazu positionieren und auch zu anderen. Die Prominenz des Themas sichert zudem auch Trittbrettfahrenden Aufmerksamkeit. Aus der Sicht von Netzdiskussionen nicht überraschend – genau so läuft das und wer damit professionell umgehen will, muss seine Netzwerke pflegen, Filter einrichten und seine Aufmerksamkeit selbstachtsam verwalten. Aber im Lehrernetz ist das doch für einige unerwartet, weil erstmals sichtbar wird, dass es sich nicht um eine große Gruppe handelt, sich sich beim Austausch über Tablet-Klassen und OER lieb hat.
Was also tun?
- Fair bleiben. Personen direkt ansprechen, sachlich bleiben, Kritik nicht mit Nebenabsichten vermischen.
- Kritik annehmen und als produktive Rückmeldung verstehen.
- Fragen stellen, Kontext einblenden, Inhalte und Aufmerksamkeit teilen – je besser man andere kennt, desto eher versteht man sie.
- Die eigene Community pflegen und stärken – nicht durch Abgrenzung gegenüber anderen, sondern durch hochwerten Austausch.
- Eigene Machtstrategien reflektieren und abbauen. Einfachste Frage: Erlaube ich anderen (e.g. Schülerinnen und Schülern), an mich dieselben Ansprüche zu stellen, die ich selbst habe?
wenn sich sus mir (musiklehrer sind beliebte klagemauern) gegenüber über ihre klp und/oder andere lp beklagt haben, habe ich betont, wie wirklich gut die lp sei. ich habe dabei vorallem versucht, die sus zu beeinflussen und zu überzeugen, was mir auch meist gelang. was ich daraus gelernt habe? ist ja klar.
Ein Freund betreibt eine Community für Lehrer, auf der neben einem Forum auch Stundenentwürfe, Materialen usw. ausgetauscht werden können. Das war lange nur einfach ein Dokumentendump, der maximal noch einen Downloadcounter anzeigte, und so wollte man das ganze ein wenig hübscher und motivierender machen (natürlich auch um mehr Traffic/Interaktion zu generieren), Also fügte man Kommentare und Bewertungen (1-5 Sterne) an.
Klang auch gut: Gute Stundenentwürfe würden so sehr einfach und schnell findbar, schlechtere würden durch Kommentare auf einen besseren Weg gebracht und upgedated. So weit die Theorie.
Praktisch brach die Nutzung ziemlich ein und das, obwohl die Mehrheit in Umfragen durchaus die Bewertungsfunktion als positive Innovation beschrieben hatte. In langen Gesprächen und Studien stellte er dann fest, dass es eigentlich sehr einfach ist: Die Lehrer auf der Plattform wollten durchaus gerne andere Inhalte bewerten und bewertet sehen, verweigerten sich allerdings jeder öffentlichen Bewertung ihrer Arbeiten.
Ist glaube ich wirklich schlicht eine deformation professionnelle.
Ja, kann ich mir gut vorstellen. Schönes Beispiel, sehr typisch IMO.
Ich grüble zurzeit darüber, inwieweit Gesetzmäßigkeiten der Gruppendynamik (z.B. nach Tuckman) hier wirksam sind. Die Twitter-Community ist nicht klein genug (obwohl sie schon recht klein ist), als dass nicht ständig verschiedene Gruppenphasen parallel ablaufen würden – z.B. eine Gruppenbildung rund um eine App, ein Barcamp, ein längerfristiges Projekt, aber natürlich auch Menschen, die sich in sehr unterschiedlichen Stadien der Antizipation digitaler Prozesse befinden und unterschiedliche Kuchenstücke der Aufmerksamkeitresourcen erhalten. Das reibt sich natürlich. Ich glaube zudem nicht, dass der Konflikt an sich nicht schon vorher bestanden hat – er ist nur durch einen vielleicht später in der Rückschau unbedeutenden Anlass getriggert worden. Das ist bedauerlich für die Betroffenen, aber ggf. ein erster Schritt und auch eine Chance und Lernmöglichkeit.
Ja, sehe ich ähnlich – denke, die verschiedenen Tuckman-Phasen laufen parallel ab in dieser Gruppe. Der Konflikt besteht wahrscheinlich aus ganz unterschiedlichen Konflikten, die teilweise gar nicht transparent sind. Bei Treffen erfahre ich oft, was hinter den Kulissen auch noch läuft – das sieht man auf Twitter dann nicht.
Hat dies auf teaching knowledge and creativity rebloggt.