Relevante Auseinandersetzungen führen – meine Wünsche an die Weiterentwicklung der (Zürcher) Gymnasien

Aktuell läuft in der Schweiz eine umfassende Revision der gymnasialen Lehrpläne, die den Namen «Weiterentwicklung» trägt. Während ich in einer Arbeitsgruppe am nationalen Projekt beteiligt war, war meine Mitarbeit beim kantonalen Projekt nicht erwünscht. Aktuell läuft die Vernehmlassung zu WegZH, dem kantonalen Projekt. Viele Lehrpersonen, Schulleitungen und andere an Schulen Beteiligte füllen Fragebögen aus, mit denen sie ihr vorhandendes oder fehlendes Einverständnis ausdrücken. Ich habe mich in an meiner Schule beteiligt, möchte aber darüber hinaus der Jahreszeit entsprechend meine Wünsche für eine Weiterentwicklung formulieren – im Wissen darum, dass unter den aktuellen politischen Rahmenbedingungen nur wenige davon erfüllt werden können.

Mein Fach, Deutsch, erhält neu die Möglichkeit, an einem Schwerpunktfach beteiligt zu sein. Es heisst «Medien, Identität und Kommunikation» und befasst sich mit dem, womit ich mich hier auf dem Blog seit Jahren befasse: Den Wechselwirkungen zwischen Leben, Gemeinschaften und Denken von Menschen und wie diese durch Informatik- und Kommunikationstechnologie beeinflusst und verändert werden. Das ist eine grosse Chance – ein Schwerpunktfach funktioniert ähnlich wie ein Leistungskurs, es sammelt interessierte und in diesen Fachbereichen kompetente Schüler:innen und erlaubt eine zeitliche Vertiefung.

Solche Schwerpunktfächer nehmen viele der Wünsche auf, die Schüler:innen im Vorfeld der Weiterentwicklung geäussert haben, z.B.

  • … vielfältige Wahlmöglichkeiten, um individuelle Interessen zu vertiefen und Potenziale zu stärken.
  • … einen fachspezifischen Aktualitätsbezug, um Anknüpfungspunkte in der eigene Lebenswelt zu finden.
  • … die Verknüpfung von Theorie mit praxisbezogenen Inhalten, um die Anwendung und somit die Einsatzmöglichkeiten zu kennen.
  • … projektorientiertes Arbeiten, um für die berufliche Zukunft mit organisationalen Kompetenzen gerüstet zu sein.
  • … interdisziplinäre Verknüpfungen, um das vernetzte Denken zu üben und Themen überfachlich einzuordnen.
  • .. die Auseinandersetzung mit Lebenskompetenzen, um die Herausforderungen in unserer Gesellschaft gesund und kompetent zu meistern.

Betrachte ich die Beschreibung des Schwerpunktfachs und die Möglichkeiten, die Schulen zur autonomen Gestaltung von Fächern und Zusammenarbeit zwischen Lehrpersonen erhalten, macht mir diese Reform Hoffnung. Hoffnung, dass die Zürcher Gymnasien zu besseren Schulen werden und Lernerfahrungen anbieten können, die sich für Schüler:innen sinnvoll und wertvoll anfühlen. Das ist denn auch mein Wunsch: Mit Interessierten Schüler:innen eine Gemeinschaft bilden, die in die Tiefe gehen kann. So entstünde Raum für Projekte, die den Rahmen der Schule sprengen und mit Menschen ausserhalb der Schule zusammen umgesetzt werden können. Ich möchte Lernerfahrungen designen, die sich nicht auf das Klassenzimmer und vorbereitete Unterrichtsmaterialien beschränken, in denen Schüler:innen in einem Masse aktiv sind, wie das heute kaum denkbar ist. In meinem Wunschgymnasium wäre ich als Lehrperson ein lernendes Mitglied dieser Gemeinschaft, wie meine Kollgen:innen auch. Wir hätten Zeit für echte Interdisziplinarität und könnten Stundenpläne und Notenabgaben in den Hintergrund rücken, weil die Auseinandersetzung mit wichtigen Fragen Priorität hat, zeitlich wie auch administrativ. Selektion erfolgte rein darüber, wer diese Auseinandersetzung in dieser Intensität führen möchte und kann. Schüler:innen würden ihre Leistungen mit Portfolios ausweisen und sich nicht über Noten Kompetenzen attestieren lassen, die sich nicht direkt nachvollziehen lassen.

Ich wünsche mir eine Reform der Grammatik der Schule. An meiner idealen Schule ist alles so eingerichtet, dass möglichst viele und wirksame Lernerfahrungen möglich sind. Sachzwänge gibt es möglichst wenige. Lehrpersonen sind nicht über Stundendotationen angestellt, Stundenpläne nicht in Fächer geteilt. Schüler:innen setzen sich längerfristige Ziele, an denen sie mit Unterstützung der ganzen Schulgemeinschaft arbeiten.

Betrachte ich vor diesem Hintergrund die WegZH-Vorlage, dann falle ich spätestens bei der Stundenzuteilung aus meinem Wunschdenken. Diese Schwerpunktfächer werden wohl nicht in Klassenverbänden, sondern in Kursgruppen unterrichtet werden. Als Deutschlehrer bin ich mit 5-8 Jahreslektionen beteiligt, auch eine Englischlehrperson unterrichtet dieses Fach, weil es politisch notwendig war, auch den Englischlehrpersonen Zugang zu einem Schwerpunktfach zu geben, da ihnen das eigene genommen wurde. Zusammen sollen wir interdisziplinäre Bezüge zu Psychologie/Pädagogik schaffen und möglicherweise zu einem weiteren Fach. Nur wenige Lektionen können wir gemeinsam unterrichten, den Rest teilen wir auf. Ich werde also mit diesem Kurs drei Jahre lang ungefähr eine Doppelstunde abhalten, die ich mit zwei anderen Lehrpersonen abstimmen und an einem Lehrplan ausrichten muss, der noch zu erarbeiten sein wird. Die Schüler:innen werden neben diesem Fach noch mehr als 10 andere besuchen. Ich werde eine Lehrperson unter vielen sein, kein Mitglied einer Lerngemeinschaft.

Wie heute werden die Jugendlichen von Prüfung zu Prüfung denken. Die Reform der Prüfungskultur hat eine Ausdehnung der Jahrespromotion bewirkt, mehr war nicht möglich. Ja, Lehrpersonen dürfen über alternative Prüfungsformate nachdenken. Ich biete eine Weiterbildung dazu an, wie man auf Prüfungen verzichten kann. Vieles kann sich ändern, die Reform verlangt das aber nicht.

In der Vernehmlassung werden viele bestehende Konzepte durch die Hintertür wieder eingeführt werden. Die Fachschaften werden um jede einzelne Lektionen ringen. «Wir geben Neuem Raum, erhalten Bewährtes und verabschieden uns von Überholtem», ist einer der Grundsätze, an denen sich das Projekt orientieren soll. Die Aufteilung von Lernzeit in zu viele Fächer gehört genauso zum Überholten wie eine stoffbasierte Prüfungskultur. Beides wird auch nach der Weiterentwicklung in die Grammatik der Schule eingeschrieben sein.

Das Projekt geht in die richtige Richtung, aber es wird, insbesondere in der Umsetzung, Schulen nicht so stark verändern, wie das nötig wäre. Das erklärt für mich, weshalb die Verantwortlichen mir keine Form der Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe angeboten haben – politisch war von Anfang an klar, dass die Weiterentwicklung zu einem Kompromiss führen wird, der vieles unangetastet lässt, was Fachpersonen gern ändern würden. Fällt eine Reform zu progressiv aus, dann wächst der Widerstand und die Gefahr einer Ablehnung.

Was im Kanton Zürich passiert, ist nur ein Reflex von dem, was schon auf Bundesebene passiert ist. Von Anfang an wollte das nationale Projektteam das Fächerproblem nicht angehen. Politisches Kalkül war wichtiger als eine Vision, Pragmatik erstickte den Mut, der nötig wäre. Die Umsetzung in den Kantonen ist das Resultat dieser Entscheidung.

«So eine Reform erleben die meisten Lehrpersonen in ihrer Karriere nur einmal», sagte mein Rektor Jürg Berthold in der Einstimmung auf die Auseinandersetzung mit der Vorlage. Das stimmt, auch für mich. Ich bin noch nicht ganz 50 und muss wohl rational einsehen, dass mehr in diesem System nicht möglich ist. Nein, ich will nicht an einer Privatschule für Privilegierte arbeiten. Nein, ich will nicht resignieren und meine Arbeitszeit abspulen, ohne an das zu denken, was eigentlich möglich wäre. Ich werde weiterhin nach Möglichkeiten suchen, meine Wünsche und Ideen umsetzen zu können. Aber ich weiss, dass ich damit zu einer kleinen Gruppe gehöre, die wenig Macht hat. Die Menschen, die Entscheidungen treffen, haben sich mit der Pragmatik angefreundet, sie sind bereit, Kompromisse zu machen, bis nur noch ganz wenig von dem sichtbar ist, was so wichtig wäre.

Und deshalb formuliere ich zum Schluss noch einen politischen Wunsch: Mutige, ambitionierte Projekte, die auch einmal scheitern und nicht umgesetzt werden können. Dieses Scheitern würde zumindest markieren, was denkbar wäre – während die permanente Kompromissbereitschaft leidenschaftliches Lernen an Schulen nicht einmal als Möglichkeit anerkennt, sondern schon davon ausgeht, dass Lernaktivitäten kleinteilig verwaltet und vermessen werden müssen.

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