Ich folge einer einfachen Regel: Begegne ich einem Missstand, spreche ich ihn an. Beschäftigt er nur einzelne Menschen, wende ich mich an die Verantwortlichen und Betroffenen. Hat er eine politische, öffentliche Dimension, äussere ich mich öffentlich.
Wer auf diesem Blog mitliest, weiss, dass ich mich mit meinen Meinungen nicht zurückhalte. «He calls ’em like he sees ’em» wäre das Baseball-Motto, dem ich privat wie beruflich beherzige.
In der Schweizer Bildungslandschaft mache ich mir damit oft keine Freunde. Leider sind einige Normen verbreitet, die zu Problemen führen:
- Informationen nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich machen.
- Kritik möglichst diskret behandeln.
- Kritik als Angriff framen, also so tun, als wäre das Ansprechen von Missständen eine persönliche Abwertung von Menschen.
- Echte und scheinbare Verantwortungsdiffusion, also strukturell oder rhetorisch unklar machen, von wem Handlungen ausgehen und wer die Macht hat, Zustände zu ändern.
- Kritische Diskussionen in einen privaten Rahmen abschieben, sie nicht so führen, dass alle mitbekommen, wer sich wie positioniert.
- Verfahren so gestalten, dass viele davon Betroffene gar nicht genau verstehen können, wie sie funktionieren.
Ich gebe ein Beispiel: Im Frühling habe ich mich auf zwei Stellen an derselben Schule beworben. Für meine Bewerbung habe ich eine Craft-Seite erstellt, auf der ich Einblick in meine Unterrichtsvorbereitungen gegeben habe und Ideen für Projekte formuliert habe, welche ich an der Schule gern durchführen möchte. Während ich bei der einen Stelle keine Reaktion auf meine Bewerbung erhalten hatte, wurde ich bei der anderen zu einem Gespräch eingeladen. Auf meine Rückfrage, wer beim Gespräch anwesend sei, erhielt ich die Antwort, das würde die Kommission Kandidat:innen nicht sagen. Was mir ebenfalls nicht mitgeteilt wurde: Wie das Profil für die Stelle aussieht, nach welchen Kriterien Unterrichtsbesuche ausgewertet werden, wie die Kommission meinen Unterricht wahrgenommen hat, warum ich die Stelle nicht bekommen habe. Meine ganze Erfahrung war die, dass sich hier Menschen nicht in die Karten schauen lassen wollen, dass sie Entscheide fällen, welche für eine Schule grosse Bedeutung haben, ohne transparent zu machen, wie sie vorgehen.
Das ist nur ein Beispiel. Ich könnte viele weitere anfügen, bei denen der gemeinsame Nenner immer der ist, dass Offenheit, Transparenz und Kritik nicht gewünscht sind; dass der Modus Operandi in geheimen Absprachen zwischen Eingeweihten besteht. Man sieht deutlich, was passiert, wenn Lehrpersonen auf internen Kommunikationsplattformen wie Teams kritische Diskussionen führen wollen – früher oder später werden sie gebeten, das zu lassen. Diese Diskussionen gehörten in Arbeitsgruppen oder Konferenzen, wo sie flüchtig sind und in den Protokollen abgeschwächt und der Vergessenheit übergeben werden.
Das gipfelt dann darin, dass ich immer wieder zu hören bekomme, wie man an einer Schule über mich spricht, was jemand über mich gesagt hat, was Menschen an meiner Arbeit kritisch sähen. Auch wenn es Kolleg:innen gibt, die mir das direkt mitteilen, gibt es eine ganze Reihe, die sich nicht trauen, ihre Meinung mitzuteilen. Und zwar nicht nur in privaten bildungspolitischen Auseinandersetzungen: Kürzlich hat Sebastian Briellmann in der NZZ Geschichtslehrpersonen zitiert, welche Entwicklungen im gymnasialen Geschichtsunterricht mit einer gewissen Skepsis sehen, aber nicht bereit sind, mit ihrem Namen zu ihrer Sichtweise zu stehen.
Das beschädigt den demokratischen Diskurs. Ich weiss, dass ich mehrfach privilegiert bin: Ich habe eine sichere Stelle, habe Erfahrung im Umgang mit Medien und Kritik, kann mich klar ausdrücken, habe Mut und auch eine gewisse Plattform. Nicht allen Kolleg:innen geht es gleich, aber vielen. Wenn Menschen in öffentlichen Anstellungen und geschützten Arbeitsverhältnissen sich nicht trauen, ihre Meinung zu sagen; wenn Lehrpersonen, deren Aufgabe es ist, Gymnasiast:innen kritisches Denken und demokratische Grundeinsichten zu vermitteln, selber elementare Grundsätze eines offenen Diskurses nicht einhalten, dann haben wir ein Problem.
Lösen können wir es alle gemeinsam, ich schlage dafür meine Regel vor: Missstände ansprechen – private privat, öffentliche öffentlich. Damit verbunden ist eine Einladung: Wer mir mitteilen möchte, welche Fehler ich gemacht habe, wo ich mich irre, wo jemand etwas anders sieht, kann das jederzeit machen – z.B. per E-Mail. Ich freue mich über kritische Widerrede, auch wenn ich meine Meinung nicht deshalb ändere, weil sie nicht der Sichtweise einer grösseren Gruppe entspricht.