Am Schluss der Januar-Ausgabe des Podcasts «Die neuen 20er» findet sich ein Gedanke, der für mich ein zentrales bildungspolitisches Problem auf den Punkt bringt. Die beiden Hosts verwenden das folgende Video als Beispiel, in dem der ehemalige Fussball-Profi Mario Basler sagt, die Punkt-vor-Strich-Regel interessiere ihn nicht. In der Folge bezweifelt er, dass es die Regel früher schon gegeben habe:
Im Podcast wird die Sichtweise Baslers als politische Möglichkeit interpretiert, Fakten als Meinungen umzudeuten. Wenn sich jemand in politischen Diskussionen also auf die Realität bezieht, dann tut man in der Reaktion so, als wäre der Realitätsbezug nur eine mögliche Sichtweise, nur eine von mehreren möglichen Meinungen.
Dieses Vorgehen zeigt sich insbesondere in der Bildungspolitik. Kürzlich hatte ich ein Telefongespräch mit einem FDP-Mitglied, dem es missfiel, dass ich den Parteipräsidenten Thierry Burkart dafür kritisiert habe, dass er in einem naiven Meritokratie-Denken forderte, Schulen müssten an Noten und Prüfungen festhalten. Empirische Forschung zeigt, dass Noten diskriminieren und deshalb nicht als Ausdruck von Leistungen geeignet sind – mehr noch, ,Leistungen‘ an sich sind Konstrukte, keine Realitäten. Die Einsichten tun viele Bildungspolitiker:innen schlicht als Meinung ab, sie stellen ihnen ihr eigenes Gefühl entgegen, dass Noten funktionieren und wichtig seien. Um ihr Gefühl zu legitimieren, stellen sie fundierte, durch Forschung erhärtete Einsichten als Meinung dar.
Dasselbe passierte kürzlich in einem Interview mit einem SVP-Politiker (, der sich zum Thema Bildung äußert. Eine Frage ist symptomatisch für das Bildungsverständnis:
Mit gezielter Frühförderung würden die betroffenen Kinder bereits vor dem Eintritt in den Kindergarten Deutsch lernen. Aber da ist die SVP dagegen. Das passt nicht zusammen.
Kinder sollen in diesem Alter Kinder sein dürfen, und die Eltern sollen selbst entscheiden können. Wir möchten nicht, dass die Kinder noch früher als ohnehin schon in schulischen Strukturen funktionieren müssen.
Das ist wieder ein Beispiel für die erwähnte Struktur: Die SVP fordert, dass Kinder, deren Erstsprache nicht Deutsch ist, Deutsch lernen sollten, bevor sie die Schule besuchen. Auch hier gibt es viele Studien, die klar belegen, dass das besonders wirksam ist, wenn es im Vorschul-Alter passiert. Aber auch das wischt der Bildungspolitiker beiseite, als sei das lediglich eine Meinung, die gleichwertig sei wie seine eigene.
Bildungspolitik ist stark an Erwartungen und Erfahrungen gebunden. Viele Erwachsene stellen sich Schule so vor, wie sie war, als sie diese selber besucht haben. Aus diesem Grund sind viele Sichtweisen auf Schule nicht rational und nicht an Tatsachen orientiert, sondern an Wünschen und Emotionen. Das ist einerseits verständlich, verhindert aber letztlich eine Verbesserung von Bildungsprozessen. Für Menschen, die sich in diesem Bereich engagieren, ist das deshalb besonders frustrierend, weil belastbare Studien und realitätsbezogene Argumente keine Wirkung entfalten, sich gegen gefühlte Wahrheiten und Meinungen nicht durchsetzen können. Das Verfahren, Tatsachen als Meinungen anzusehen, ist in diesem Bereich besonders wirksam.
Leider helfen oft auch Schulversuche und Erfahrungen nicht. In der Schweiz existieren über 20 Schulsysteme nebeneinander, oft mit vergleichbaren Bevölkerungsstrukturen. Es lässt sich recht einfach erkennen, welche Massnahmen wie gut funktionieren. Dennoch nutzt fast jeder Kanton diese möglichen Vergleiche so, dass das eigene System gerechtfertigt werden kann. Bildungspolitiker:innen investieren viel Energie, um Forderungen durchzusetzen, die eine klare Verschlechterung der Bildungsqualität bewirken.
Ein Beispiel ist der Kampf gegen die Integration, den SVP und FDP widern bessern Wissens führen. Mit dem Argument, Lehrpersonen seien durch die Integration überfordert, setzen sie sich für Sonderklassen ein. Dabei ignorieren sie, dass das Problem bei der Arbeitsbelastung der Lehrpersonen und bei den Klassengrössen liegt. Sie tun so, als liesse sich durch eine neue Sortierung der Schüler:innen ein Effizienzgewinn erzielen, der Lehrpersonen entlaste. Eine imaginäre Trennung von ,schwierigen‘ und ,einfachen‘ Schüler:innen ist die Basis dieser Phantasielösung, die aus drei einfachen Gründen nichts bewirken wird: Erstens werden praktisch keine Eltern bereit sein, ihre Kinder in Sonderklassen unterrichten zu lassen und sich mit allen erdenklichen juristischen Mitteln dagegen wehren. Das ist auch nachvollziehbar, weil es zweitens keine ,schwierigen‘ Schüler:innen gibt, sondern Kinder bestimmte Verhaltensweisen unter bestimmten Umständen zeigen – sie verhalten sich dann ,schwierig‘, wenn das Lernsetting nicht zu ihren Lernbedürfnissen passt. Sie in ein anderes Setting zu versetzen, löst dieses Problem nicht. Drittens werden sich keine Lehrpersonen finden, die unter der Bedingung der Kostenneutralität ,schwierige‘ Schüler:innen unterrichten möchten, welche dieses Setting selber gar nicht wünschen.
Der einzige Faktor der mich optimistisch stimmt: Letztlich muss man nicht alle Menschen überzeugen, um eine Veränderung zu bewirken. Es reicht, wenn eine Innovation eine Minderheit überzeugt, welche diese als angesagt, wichtig und cool ansieht. Dann verbreitet sie sich von selbst.