Die Haupterfahrung, die die Schüler an der Schule verinnerlichen, lautet: ‹Ich kann hier nichts bewirken. Ich kann das System, in dem ich mich acht Stunden am Tag aufhalte, nicht beeinflussen.›
Marina Weisband – Die neue Schule der Demokratie
In meinem neuen Buch L’école c’est moi greife ich den zitierten Gedanken von Marina Weisband auf und skizziere in einem Kapitel, wie wichtig es für gute Schulen ist, Schüler:innen in ihre Gestaltung einzubeziehen. Dabei ermöglichen sie Kindern und Jugendliche die Erfahrung, dass es bedeutsam ist, was sie denken und empfinden, dass sie Entscheidungen beeinflussen können und Gestaltungsraum haben. Das ist für ihre psychologische Entwicklung eine zentrale Erfahrung.
In einem Gespräch mit Dejan Mihjalović wurde mir diese Woche bewusst, dass es Kontexte gibt, in denen ich diese pädagogische Haltung verlassen würde. Es handelt sich dabei um gravierende Probleme wie die Klimakatastrophe, Rassismus, korrupte politische Prozesse, die kapitalistische Ausbeutung benachteiligter Menschen und Länder, Polizeigewalt oder Umweltverschmutzung und -zerstörung. Diese Probleme haben eine lange Geschichte und sind von zahlreichen Faktoren beeinflusst. Eine positive Bearbeitung kann nur durch die Einsicht, das Engagement und die Zusammenarbeit wichtiger Akteur:innen erfolgen, oft sind strukturelle Veränderungen notwendig, die auch über die Möglichkeiten von Nationalstaaten hinausgehen.
Warum ist das ein Problem? Wenn wir Kindern oder Jugendlichen suggerieren, sie könnten einen individuellen Beitrag zur Klimakatastrophe leisten, wenn sie weniger Lüften, kein Fleisch essen, mit dem Rad zur Schule fahren etc., dann stellen wir ihnen einerseits Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung, welche Ohnmachtserfahrungen und Resignation verhindern können. Andererseits suggerieren wir ihnen einen Einfluss, den sie schlicht nicht haben. Individuelle Handlungen können die Klimakatastrophe nicht abwenden. Im Gegenteil: Gerade die Individualisierung ist eine Strategie von Unternehmen, ihre Verantwortung für Probleme, die sie verursachen, abzulehnen und Lösungsansätze zu verstecken, wie etwa Simon Schaupp deutlich gezeigt hat. Wenn wir pädagogisch in diese Falle tappen, so verstärken wir Probleme gerade dadurch, dass wir jungen Menschen einreden, sie könnten einen Beitrag zu ihrer Lösung leisten.
Nun ist aber, wie das Gespräch mit Dejan mir gezeigt hat, noch viel vertrackter. Hier einige Aspekte der Schwierigkeiten:
- Die Handlungsoptionen können bei jungen Menschen auch negative Effekte auslösen, wenn sie nämlich bemerken, wie wenig Menschen beispielsweise ihren Fleischkonsum wirksam reduzieren oder auf saubere Mobilität umsteigen – und wie wenig sie tun können, um andere von dem zu überzeugen was sie für richtig halten (was aber möglicherweise nicht einmal einen wirksam Beitrag zur Lösung des entscheidenden Problems leisten würde)…
- Wirksamer Aktivismus ist oft wenigen Privilegierten vorbehalten, die gehört werden, deren Stimme Kraft hat. Er findet gleichsam auf den Schultern von Ohnmächtigen statt, welche diese Erfahrung nicht machen können.
- Symbolische Handlungen können wirksame Handlungen wahrscheinlicher machen, indem sie die Bereitschaft von Menschen beeinflussen, etwas zu tun, was wirklich einen Effekt hat.
- Die Frustration bei der Bearbeitung von Problemen kann dazu führen, dass wirksamere Strategien gefunden werden und der eigene Einfluss gesteigert wird.
- Das Engagement rund um wenig wirksame Aktionen kann aber auch Kräfte nehmen, die für radikalere Proteste nötig wären.
Aus meiner Sicht darf die Frage nach der Wirksamkeit des eigenen Handelns nicht nur gestellt werden, sie ist auch hilfreich bei der Reflexion. Letztlich soll sie aber nicht entmutigen oder passiv machen, sondern Energie bündeln, Zusammenarbeit ermöglichen und Lerneffekte erzeugen. Symbolische Handlungen können Wirksamkeit suggerieren und so passiv machen oder Probleme stabilisieren, genau so können sie aber auch einen Lernprozess über Wirksamkeit in Gang setzen und so Aktivität verstärken.
Um noch mal auf die Schule zurückzukommen: Eine Schule, in der Schüler:innen in einer AG zwar ein Sofa für einen Aufenthaltsraum aussuchen dürfen, aber 30 Stunden Unterricht erdulden müssen, in dem sie weder ernst genommen werden noch richtig aktiv sein dürfen, setzt Beteiligung als Feigenblatt ein. Schüler:innen können und müssen an jeder relevanten Entscheidung beteiligt werden, die sie betrifft. Das Zitat von Marina besagt denn auch: Entscheidend ist die Erfahrung, ein System beeinflussen zu können. Das ist das Kriterium, mit dem sich symbolische von effektiver Beteiligung unterscheiden lässt: Gibt es Handlungen, sie sich aufs System auswirken? Und damit lässt sich auch zeigen, dass individuelle Konsumentscheidungen das meist nicht tun.