Ist Medienkompetenz das wahre Problem?

Der Ansatz Danah Boyds, mit Jugendlichen offen über ihre Mediennutzung zu sprechen, hat mich stark beeinflusst (vgl. meine Rezension ihres Buches »It’s complicated«). Gestern hat sie einen Blogpost mit einer starken These veröffentlicht, den ich im Folgenden zusammenfasse und kommentiere.

Boyd diskutiert die Frage, wie es erklärt werden kann, dass viele Menschen Fachinformationen misstrauen und wichtige persönliche und politische Entscheidungen auf fehlerhaftem Wissen abstützen. Als Beispiel nennt sie eine junge Frau, die davon ausgeht, vor 16 könne man nicht schwanger werden und HIV werde beim Küssen übertragen. Dafür habe sie im Netz Quellen gefunden.

Die junge Frau steht stellvertretend für gesellschaftliche Gruppen, die Fachleuten misstrauen – egal ob in medizinischen, politischen oder wirtschaftlichen Fragen. Boyd führt dieses Problem auf drei Ursachen zurück:

  1. Persönliche Verantwortung.
    Die amerikanische Vorstellung von Freiheit geht von einem Individuum aus, das alle relevanten Entscheidungen unabhängig und auf sich selbst gestützt fällen kann – von der Altersvorsorge über die Krankenversicherung bis zur Informationsbeschaffung.
  2. Kultur des Zweifelns.
    Die Lehre von der Bedeutung des Zweifels gegenüber dem Mainstream und Autoritäten. Was man oft hört oder liest, ist nicht notwendig wahr – sondern muss seriös überprüft werden.
  3. Erfahrung vor Expertise. 
    Der Eindruck vieler Minderheiten, dass ihre Erfahrungen nicht wahrgenommen und keine mediale Darstellung finden. Dieser Eindruck überträgt sich zunehmend auch auf die weiße Mittelklasse, die keine Minderheit darstellt, aber ebenfalls davon ausgeht, die Situation des »common guys« werde vernachlässigt. Boyd konstatiert einen umfassenden »confirmation bias«, bei dem nur die Informationen Gehör finden, welche die eigene Erfahrung bestätigen.

Das führt Boyd zu ihrer These – Medienkompetenz (»media literacy«) bestehe gerade aus einer Kultur des Zweifelns, auf der persönlichen Verantwortung beim Weiterreichen und Aufnehmen von Informationen und auf dem Abgleich des Wissens mit der eigenen Erfahrung.

Boyds Forderungen:

  1. Abrücken von der Vorstellung, technische Verbesserungen von Facebook oder anderen Informationswerkzeuge könnten das Problem der »fake news« lösen.
  2. Keine einfachen Vorschläge, des Problem mit mehr Bildung zu lösen.
  3. Aufbau sozialer Kontexte, in denen Menschen echte Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven führen können. So könnten gesellschaftliche Grenzen überwunden werden und echte Expertise Gehör finden.

Nur: Das ist schwierig, weil es ein umfassendes Projekt ist, das nur langfristig umgesetzt werden kann.

Die Argumentation Boyds lässt sich nicht direkt auf einen europäischen Kontext übertragen, weil die Heterogenität der amerikanischen Gesellschaft und die spezifische Vorstellung von Freiheit und Unabhängigkeit sich in dieser Form nicht findet. Gleichwohl ist die Frage interessant, ob eine oberflächliche Vorstellung von Medienkompetenz nicht negative Auswirkungen hat, weil sie ein Misstrauen gegenüber seriösen Informationen eher befördert denn abbaut.

Vgl. auch diesen Artikel im Real Life Mag.

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Nam June Paik – »Electronic Superhighway« – CC BY 2.0, Photo von CEA+

7 Kommentare

  1. irgendeiner sagt:

    Das wahre Problem liegt doch ganz einfach in der Schwierigkeit, dass auch intelligente Menschen im Internet nur mühsam wahr von falsch unterscheiden können.

  2. raskalnikow sagt:

    Siehe Impfgegner.
    Siehe „Alternativmedizin“.

    Halbwissen bei hartnäckiger Ignoranz ist für die Gesellschaft fatal.

  3. Wabble sagt:

    Aufbau sozialer Kontexte, in denen Menschen echte Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven führen können.

    Was könnte das sein und was unterscheidet es von «einfachen» Forderungen nach Bildung?

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